SCHLUSSBERICHT 2022

BEWEGTES UND bewegendes

Das Festival 2022: Am, im und ums Wasser

Mit der auf den Zürichsee zugeschnitten Performance «What happens with a dead fish? (Lake Zurich Edition)» der litauischen Künstlerin Lina Lapelytė endete am Sonntag, 4. September, das 43. Zürcher Theater Spektakel. Die in Zusammenarbeit mit dem Seefelder Kammerchor entstandene Arbeit steht sinnbildlich für einige der zentralen Anliegen des diesjährigen Festivals. Dazu gehört die Kooperation internationaler Künstler*innen mit lokalen Akteur*innen etwa, wie sie bereits an gleicher Stelle im Wasser an der Saffainsel auch Meg Stuarts Kooperation mit The Field in «Waterworks» gelebt hatte. Das Stück zwischen Land und Wasser um Übergänge, Unentschiedenheiten und Wechselwirkungen verwies nicht zuletzt auf das Übermass und das Fehlen von Wasser und so auf Überschwemmungen und Dürreperioden, die gerade in den letzten Sommern auch in Zentraleuropa zunehmend spür- und wahrnehmbar wurden.

Überhaupt: Wasser – als Element, Ressource und Sinnbild einer zunehmend wahrgenommenen Fragilität unserer Welt – war für einige der am diesjährigen Festival präsentierten Stücke relevant und wichtig. Dazu gehört etwa das Dokumentarstück «Out of the Blue» über Rohstoffabbau in der Tiefsee von Silke Huysmans & Hannes Dereere, oder «Children of Amazi (Kinder des Wassers)» von SMALL CITIZENS, das mit dem diesjährigen ZKB Publikumspreis ausgezeichnete Kindertheaterstück über das Thema Wasserknappheit in der Region der Grossen Afrikanischen Seen.

 

Beispielhaft für die diesjährigen Programmschwerpunkte: Lina Lapelytės «What happens with a dead fish?». Foto: ZTS/Kira Kynd

Koproduktionen und Premieren: Ortsspezifisch – und zwischen Kunst und Aktivismus

Aufgrund der durch die ortsspezifischen Projekte reduzierten Kapazität bei der ersten Festivalausgabe nach der Pandemie waren dieses Jahr weniger Tickets im Angebot. Obwohl der Vorverkauf zögerlicher anlief, als in den Jahren vor Corona und auf der Landiwiese etwas weniger Besucher*innen-Andrang herrschte, verlief der Ticketverkauf schlussendlich doch wieder sehr erfolgreich. Mit einer Auslastung von 85 Prozent bleibt das Festival und sein Programm beliebt wie eh und je.

Unser Entscheid, die Saffainsel in diesem Jahr für ortsspezifische Projekte anders zu bespielen als aus den Festivalausgaben vor der Pandemie gewohnt, ermöglichte nicht nur Raum für Projekte wie «Waterworks» und «What happens with a dead fish?», sondern auch für die Durational Performance «Schmerz» von Ragnar Kjartansson unter Mitwirkung der Musikerin Kristín Anna Valtýsdóttir und der Comedian Saga Garðarsdóttir. Die minimalistische Reflexion des Dramatischen im Dauerloop vermochte auch Kritiker*innen zu begeistern: «Die Erschütterung über eine Tat, von der man nichts erfährt, sickert über die Dauer ins eigene Gemüt, man grübelt über eigene Verfehlungen, man nimmt das Pathos immer selbstverständlicher hin, es ist grossartig», meinte etwa Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung.

Wir freuten uns zudem auch über die positiven Publikums- und Pressereaktionen auf die vom Zürcher Theater Spektakel koproduzierten Arbeiten, etwa auf «Intime Revolution» von Anna Papst & Mats Staub oder «Please Stand» von Samara Hersch & Lara Thoms. Diese und weitere Arbeiten, die über gesellschaftspolitische Inhalte zum Teil auch aktiv werden und konkret wirken wollen, interessieren nicht nur uns – sie stossen auch beim Publikum auf ein grosses Interesse. Das verdeutlichte nicht nur die Performance von Pussy Riot, sondern dieses Jahr insbesondere auch die Arbeiten aus dem lateinamerikanischen Raum von Tiziano CruzMartha Luisa Hernández Cadenas oder dem chilenischen Kollektiv LASTESIS. Das Verhältnis von Aktivismus und Kunst und das Ausloten von Potentialen ihrer Verbindung bleibt für uns eine Perspektive, der weiter zu folgen sein wird – nicht zuletzt aufgrund einer Verschärfung und Vulgarisierung der öffentlichen Debatte, die auch Kulturinstitutionen wie wir immer stärker wahrnehmen.

Ein immer selbstverständlicher werdendes Pathos: «Schmerz» von Ragnar Kjartansson | Foto: Lilja Gunnarsdóttir

Festivalgastronomie und Strassenkunst: Beliebt wie eh und je

Nach den von der Pandemie bestimmten letzten beiden Ausgaben war am Zürcher Theater Spektakel 2022 ein regulärer Festivalbetrieb wieder möglich. Das zeigte sich nicht nur über die nun wieder etwas einfachere Reise- und Produktionsplanung im Vorfeld, sondern auch vor Ort: Die Festivalgastronomie war dieses Jahr trotz der Reduktion um zwei Betriebe gut besucht, gerade an den schönen Sommerabenden. Endlich gab es wieder die ganze kulinarische Bandbreite von Agwaragwa über Thali bis hin zu Spaghetti con le sarde – ganz zu schweigen von den köstlichen Desserts!

Die leicht veränderte Anordnung der temporären Bauten auf dem Platz hatte zum Ziel, etwas mehr Luftigkeit und Transparenz herzustellen, was gemäss den Rückmeldungen vieler Besucher*innen gut gelungen ist. Ein Publikumsmagnet auf dem Festivalgelände ist und bleibt das Zentral, dessen Bühnen in diesem Jahr erstmals seit ihrem Neubau im Jahr 2019 wieder errichtet werden konnten und die sich sowohl als temporäres Zuhause für die Strassenkunst wie auch als abendliches Festivalzentrum für Künstler*innen und Mitarbeiter*innen gleichermassen grosser Beliebtheit erfreut haben. 

Überhaupt vermochte das Zentralprogramm in diesem Jahr wieder das ganze Spektrum von zeitgenössischen Formen der Strassenkunst, aber auch Musik und Spoken Word einzufangen und als frei zugängliches Angebot jeden Abend Hunderte von Menschen jeden Alters zu begeistern. An sechs Tagen waren Strassenkünstler*innen zudem auch wieder dezentral in Quartieren und Gemeinschaftszentren innerhalb der Stadt Zürich unterwegs.

 

Weiterhin beliebt: Die Strassenkunstvorstellungen auf den Zentralbühnen | Foto: ZTS/Kira Kynd

Kooperation, Inklusion und Diversität: Auf dem Weg zu einem «Festival für alle»

Fortgeführt und vertieft wurden erneut die Kooperationen mit Institutionen in der Stadt Zürich und internationalen Partner*innen – was nicht zuletzt auch einen Beitrag zu einem nachhaltigeren Kulturbetrieb leistet, allen voran die bereits erwähnten Kooperationen internationaler Künstler*innen mit lokalen Ensembles, aber auch die erneute Zusammenarbeit mit dem Theater Neumarkt oder neu etwa mit dem Museum Rietberg oder dem Luma Westbau. 
 
Ebenfalls verstärkt wurden im Kontext unserer Leitidee «Ein Festival für alle» die Anstrengungen im Bereich Kulturvermittlung, Diversität und Inklusion. Im Lauf des vergangenen Jahres haben sich Festivalleitung und Team bereits intensiv mit Fragen einer diversitätssensiblen und diskriminierungskritischen Arbeitskultur auseinandergesetzt. Diesen Fragen widmete sich an verschiedenen Stellen auch das Festivalprogramm. Zu nennen ist insbesondere der Workshop «RESISTENCIA» mit dem chilenischen Kollektiv LASTESIS, der in einer Performance von rund dreissig Frauen* aus Zürich und Umgebung auf der Zentralbühne mündete. Neben dem erneut sehr beliebten Format der Stammtisch-Gespräche, in denen in offener Runde relevante Themen rund um Festivalinhalte diskutiert werden, wurden dieses Jahr auch einige Neuerungen erprobt: Etwa die allabendlichen Einführungen, das Verwenden von einfacher Sprache auf der Festivalwebsite oder der Info-Stand auf dem Festivalgelände wurden vom Publikum begrüsst und bestärken uns darin, diese Angebote beizubehalten und auszubauen. 

Auf dem Festivalgelände präsent waren auch Mitglieder von Theater HORA, die ihre Eindrücke aus den Vorstellungen in Form von kurzen Videotrailern klug und unterhaltsam reflektierten, ebenso wie die Radioworkshops für Jugendliche und Profis mit Migrationserfahrung, die bereits zum vierten Mal stattgefunden haben. 

 

Vertiefte Vorbereitungen: Beim Workshop von colectivo LASTESIS | Foto: ZTS/Kira Kynd

ZKB Preise 2022: Intimität, Vielschichtigkeit, Interkulturalität

Zum Abschluss des Festivals wurden am vergangenen Samstag die ZKB Preise verliehen, mit denen die Zürcher Kantonalbank als Hauptpartnerin am Festival auftretende Künstler*innen seit über zwanzig Jahren auszeichnet. Den mit CHF 30 000 dotierten ZKB Förderpreis erhielt der libanesische Choreograf Ali Chahrour für das Stück «The Love Behind My Eyes». Die aus Monika Truong, Nataly Sugnaux Hernandez, Nedjma Hadj Benchelabi, Yoko Kawasaki und Eva Neklyaeva bestehende Jury begründete ihren Entscheid insbesondere mit der sorgfältigen und virtuosen Komposition von Raum, Licht und Musik, mit der radikale Sanftheit der Gesten im Stück unterstrichen werde. Die Jury zeigte sich ebenfalls beeindruckt von dem Fakt, dass «The Love Behind My Eyes» von Chahrour und den anderen Mitwirkenden in Beirut in der Zeit der Covid-Pandemie und anderer schwerer Krisen entwickelt worden sei. «Vor diesem Hintergrund fordert es Raum für Intimität, persönliche Geschichten und verkörpertes Wissen ein und thematisiert zugleich auf ein grösseres Spektrum kollektiver sozialer Probleme», so die Jury. 

Den mit CHF 5000 dotierten Anerkennungspreis verlieh die Jury an die kubanische Performerin Martha Luisa Hernández Cadenas. Ihr Stück «No soy unicorno», so die Jury, sei reich an Poesie und konkreten Bildern aus dem soziokulturellen Kontext Havannas. «Die Grosszügigkeit, Nachdenklichkeit und Fluidität ihrer Performance sowie die Freiheit, mit der sie Bedeutungen und Medien zusammenfügt und auseinandernimmt, spiegeln ein vielschichtiges Thema wider», betonte die Jury in ihrer Begründung weiter. 

Das Festivalpublikum zeigte sich wie bereits eingangs erwähnt dieses Jahr insbesondere von «The Children of Amazi (Kinder des Wassers)» begeistert. Das Stück ist das Ergebnis der Initiative SMALL CITIZENS, einer Koproduktion des Ishyo Arts Centre in Ruanda und des Théâtre du Papyrus in Belgien. Ziel der Initiative ist es, junges Theater in Ostafrika interkulturell neu zu denken und zu realisieren.

Wir schliessen diesen Bericht mit einem Dank, der eigentlich an erster Stelle steht: unseren Mitarbeiter*innen für ihr alljährliches riesengrosses Engagement, unseren Partner*innen für den Zuspruch und die Unterstützung und ganz besonders unserem wachen, offenen, kritischen und begeisterungsfähigen Publikum. Ihnen allen sind wir einmal mehr zu grossem Dank verpflichtet.

Das Zürcher Theater Spektakel findet 2023 vom 17. August bis 3. September statt. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen auf der Landiwiese im nächsten Jahr.

Die Festivalleitung
Matthias von Hartz, Sarah Wendle, Veit Kälin

Freude über den Erhalt des ZKB Publikumspreises: Die Preisträger*innen von SMALL CITIZENS | Foto: ZTS/Kira Kynd