«Wenn du eine Hymne singen müsstest, was würdest du besingen?»

Ein kurzer Austausch zwischen den Künstlerinnen Negar Rezvani und Samara Hersch

Das australische Künstlerinnen-Duo Samara Hersch und Lara Thoms erforscht im Stück «Please Stand» die Grenzen, die uns trennen und die Hymnen, die sie besingen. Wie können wir die Trennlinien durchbrechen und unsere Geschichten umschreiben? Wie können wir Identitäten schaffen, die nicht auf nationalen Mythen beruhen und mehr mit Freundschaften und Gemeinsamkeiten zu tun haben und weniger mit Gewalt und Feindschaft? Für ihr Projekt haben sich die beiden Künstlerinnen unter anderem mit der jungen iranischen Poetin Negar Rezvani zusammengetan – die aufgrund restriktiver Grenzpolitik nur digital am Zürcher Theater Spektakel teilnehmen kann. Im Jahr 2013 beantragte sie Asyl in Australien und war dann gezwungen, sechs Jahre lang in einer abgelegenen Einrichtung mitten im Pazifischen Ozean zu leben. Weitere zwei Jahre lebte sie mit einem sogenannten «community detention visa» auf dem australischen Festland, bevor sie in die USA umgesiedelt wurde. Samara Hersch hat sich mit ihr über ihr Mitwirken an «Please Stand» ausgetauscht und darüber, was Grenzen und Hymnen für sie bedeuten, welche Rolle die Kunst dabei spielen kann und auch, was ihr Hoffnung gibt.

 

Samara Hersch Was hat dich zum Theaterprojekt «Please Stand» hingezogen?

Negar Rezvani Als ich eingeladen wurde, bei «Please Stand» als Dramaturgin und Performerin mitzuwirken, war ich direkt von der Bedeutung der Botschaften besessen, die durch Kunst, Musik und Theater an ein Publikum gesendet wird. Die Tatsache, dass Kunst aus Schmerz Schönheit schaffen kann, ist zumindest für mich herzerwärmend. Ich verstand, dass Menschen seit Anbeginn der Geschichtsschreibung zwischen imaginären und verdrehten Grenzen gelebt haben, die uns bis heute auf die eine oder andere Weise umhüllen und uns voneinander und unserer Realität trennen. Doch trotzdem wissen wir alle – egal aus welcher Nation, welcher Kultur oder welchem Sprachraum wir kommen – was es bedeutet, «aufzustehen» und Respekt und Ehre für das zu zeigen, woran wir glauben.

Dieser universale Akt gibt mir Hoffnung und sollte nicht nur in nationalen Geschichten zum Ausdruck kommen, die von unserem Getrenntsein sprechen. Vielmehr sehe ich ihn im Ausdruck von Freundschaft, Fürsorge und Liebe. Ich freue mich deshalb, einen Beitrag zu «Please Stand» leisten zu können und zum Ausdruck zu bringen, wie die Grenze einer hypothetischen Linie zumindest durch die Kunst durchbrochen und neu gezogen werden kann.

SH Es ist interessant, wie du Grenzen als «imaginär und verdreht» beschreibst. Ein Grossteil des Projekts erforscht die Spannung zwischen der Gewalt und Starrheit von Grenzen und der Fantasie und Fiktion, die sie geschaffen haben. Was denkst du über die Entstehung von Grenzen?

NR Der Mensch hat auf der Erde Linien gezogen, die gegen unsere Natur sind. Bäume wachsen zwischen den Grenzen, sie werden grösser zwischen den Sprachen, Kulturen und Nationalhymnen, ohne sich darum zu kümmern; unabhängig von der Politik der jeweiligen Nationen. Bäume scheren sich nicht um Grenzen und Linien. Der Himmel ist überall blau und das Gras ist überall grün. Flüsse und Meere sind von überall auf der Welt miteinander verbunden und fliessen an verschiedenen Städten vorbei, ohne ihre Identität zu beweisen. Im Laufe der Geschichte, in realen Geschichten, in Filmen und Büchern, haben wir gesehen, wie zwei Liebende aus zwei verschiedenen Ländern für ihre Liebe kämpfen, nicht aus Hass gegeneinander. Das zeigt, dass auch die Liebe keine Grenzen kennt. Liebe und Vernunft sind in uns, aber Hass ist etwas, das wir geschaffen haben – wie Grenzen. Als eine Frau, die mit einem Rucksack voller Einsamkeit die Gewässer und Grenzen von Dörfern und Ländern überquert hat, habe ich gelernt und erfahren, wie Grenzen das Leben beeinflussen und alle Arten von Schmerz verursachen können.

SH Wenn du eine Hymne singen müsstest, was würdest du besingen?

NR Unser aller Hymne sollte eine universale Stimme der Menschen auf der ganzen Welt sein, die unsere Unterschiede akzeptiert und dennoch für Einheit und Frieden steht. Wir sollten aufstehen, um uns selbst, unsere Nachbar*innen und sogar unsere Feinde zu respektieren, denn wir sind Wesen derselben Spezies und brauchen einander mehr denn je, um in dieser komplexen und verstrickten Welt, in der wir leben, zu überleben.

 

«Please Stand» von Samara Hersch und Lara Thoms feiert am 18. August 2022 am Zürcher Theater Spektakel Premiere. Weitere Informationen und Tickets.

 

Credits

Foto: Negar Rezvani