THEATER ALS ZUFLUCHTSORT – EIN RAUM ZUM GEMEINSAMEN TRÄUMEN

Ein Interview mit dem französischen Regisseur, Szenograf und Autor Philippe Quesne

Philippe Quesne | ©Amélie Blanc

Mit «Farm Fatale» bringt der französische Theatermacher Philippe Quesne eine ebenso stille wie subversive Klima-Fabel ans Zürcher Theater Spektakel. Auf der Seebühne begegnet das Publikum fünf Vogelscheuchen – humanoide Figuren mit weissen Masken und verstellten Stimmen – die sich in einer postapokalyptischen Welt eingerichtet haben. Vögel, Insekten, Menschen: alle sind verschwunden. Übrig bleiben die melancholisch-poetischen Überreste einer Natur, die von Marktlogik und Profitgier ausgelöscht wurde. Doch trotz dieser düsteren Ausgangslage ist «Farm Fatale» kein dystopischer Schockraum, sondern ein absurdes, liebevoll komponiertes Theatermärchen – mit trockenem Humor, viel Musik, und Momenten zärtlicher Revolte. Die Vogelscheuchen archivieren Vogelstimmen, machen anarchistische Radiobeiträge und verteidigen das Poetische gegen das Profitorientierte. Farm Fatale ist eine ökologische Parabel ohne moralischen Zeigefinger – eine Hommage an die Langsamkeit, an Freundschaft, an die Möglichkeit einer anderen Welt. Quesne, der ursprünglich aus der Bildenden Kunst kommt, entwickelt seine Arbeiten gemeinsam mit seinem langjährigen Kompanie Vivarium Studio – mit dem er seit über 20 Jahren eigenwillige, bildgewaltige Bühnenperformances macht.

Zunächst vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch genommen hast. Wir freuen uns sehr, dein Stück nächste Woche in Züirch zeigen zu können, am Eröffnungswochenende des Festivals! In deiner Arbeit stehen Ökologie, das Artensterben und die Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen im Mittelpunkt. Welche Rolle spielen sie in deinen Arbeiten?

Mein Interesse an allem Lebendigen geht auf meine Kindheit zurück. Ich war fasziniert von Tieren, Insekten... Als ich begann, Bühnenräume zu gestalten, lag die Idee, verschiedene Spezies koexistieren zu lassen, nahe. Mein erstes Stück, «La Démangeaison des ailes», thematisierte den Wunsch des Menschen zu fliegen. Bald standen Tiere auf der Bühne – ein Hund, ein als Vogel verkleideter Schauspieler...

Im Laufe der Jahre habe ich ein «Multi-Spezies-Theater» entwickelt: Maulwürfe, Riesenkalmare, Vogelscheuchen... Anfangs war das in der französischen Theaterlandschaft kaum präsent. 2006 entstand «D’après Nature», ein ökologisches Märchen über Astronauten, die die Ozonschicht reparieren sollen – damals waren diese Themen, wenn überhaupt, in der bildenden Kunst präsent.

Die Begegnung mit Bruno Latour und anderen Denkern, die den Begriff des Anthropozäns geprägt haben, hat meine Arbeit stark beeinflusst. Ich wusste gar nicht, dass mein Schaffen in diesen Kreisen rezipiert wurde. Ihre Gedanken haben mir neue Perspektiven eröffnet. Manchmal steht Ökologie im Zentrum, wie bei «Farm Fatale», manchmal erscheint sie eher poetisch – aber sie ist immer da.

Kannst du beschreiben, was die Begegnung und dann die Zusammenarbeit mit Bruno Latour in dir ausgelöst hat?

Latour, Haraway und viele andere haben Wissenschaft und Kunst miteinander verbunden und so unsere Weltsicht verändert. Das hat viele Künstler inspiriert. Ich hatte Latour und sein Team für eine fast siebenjährige Residenz ans Theatre de Nanterre eingeladen, das ich damals leitete. Gemeinsam mit Studierenden von Sciences Po entstand «Le Théâtre des négociations», eine simulierte Klimakonferenz in Zusammenarbeit mit Raumlabor – noch vor der COP21, fast wie ein «grosses dokumentarisches Spektakel».

Seit meinen ersten Stücken versuche ich, ein Theater zu schaffen, in dem man ein Ökosystem live beobachten kann, in dem die Beziehungen zwischen Mensch und Nicht-Mensch befragt werden. Die Bühnenbilder sind dabei immer auch Landschaften.

Seit «Farm Fatale», das 2019 in München zur Premiere kam, hat sich die Klimakrise, aber auch das Artensterben, zugspitzt. Hat sich dein Blick auf das Stück verändert?

 Ja. Ich habe die Pandemie beim Schreiben nicht vorhergesehen, obwohl die Figuren Masken tragen. Seither hat sich die Umweltkrise verschärft: Luftqualität, Landwirtschaft, Nahrung... Und das alles hängt mit den aktuellen geopolitischen Konflikten und einem entfesselten Kapitalismus zusammen.

«Farm Fatale» handelt vom Artensterben, erzählt durch Vogelscheuchen. Meine Arbeiten sind seither düsterer geworden, auch wenn ich Humor beibehalte. Schon die Maulwürfe in «La Nuit des taupes» (2016) waren Überlebende. Heute ist Angst allgegenwärtig – zwischen Bunkern von Milliardären, Marskolonien und apokalyptischen Fantasien... Ich bin nicht sehr optimistisch. Wir befinden uns nicht mehr in der Phase der Warnung, sondern mitten im Umbruch.

Und dennoch bieten deine Stücke eine Art Zuflucht. Trotz der Apokalypse möchte man in diese Welten eintauchen.

 Ja, mir gefällt diese Vorstellung vom Theater als Zufluchtsort. Ein gemeinsamer, lebendiger Raum. Nach der Pandemie ist das Publikum mit Kraft zurückgekehrt. Ich versuche, ein Theater zu schaffen, das Raum für Zweifel, Träumerei und alternative Wege lässt – wie ein Lagerfeuerabend. Auch wenn ich reale Fakten verwende, wie etwa in «Farm Fatale», vermeide ich reines Dokumentartheater. Ich brauche poetische Distanz und Möglichkeit zur Übertragung.

Kunst wird die Welt nicht retten, aber sie bleibt für unser Menschsein unverzichtbar. Gerade jetzt, wo das Recht auf individuelle Gedanken und Imagination bedroht ist. Was mich in den letzten Jahren gefreut hat, ist der produktive Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Feministische Theorien, Autor*innen, die zu Dekolonialität schreiben, sowie neue, linke Bewegungen bereichern diesen Diskurs. Auch wenn es politisch schwer greifbar ist: vielleicht entstehen daraus zukünftige Utopien, die die Welt verändern können.

Und ja, Zuflucht ist genau das, was ich anbieten möchte: ein gemeinsamer Ort zum Denken und Träumen. Ein Moment der Ruhe, in dem alle durchatmen können.

Auch wenn meine Stücke auf Fakten basieren – «Farm Fatale» etwa thematisiert Bauern-Suizide, Gentechnik und Pestizide – brauche ich den poetischen Abstand. Dokumentartheater im engeren Sinn ist nicht mein Ding.

Kunst wird die Welt wohl nicht retten, aber sie ist für die menschliche Existenz zentral. Das Recht auf freie Gedanken, auf Poesie, ist heute gefährdet – in Bildung und Politik. Der Kapitalismus bevorzugt gefügige Künstliche Intelligenzen gegenüber kritischen, kreativen Menschen. Wir brauchen dringend neue Narrative, andere Erzählungen, neue Utopien. Denn Angst ist zur Machtstrategie geworden: Angst schüren, verunsichern, Kontrolle gewinnen – das ist kein neues Muster. Aber es gibt einen letzten Widerstandsraum: die Imagination. Wir müssen neue Geschichten imaginieren, neue Systeme und alternative Machtstrukturen denken.

Ich dachte an meine Kindheit zurück, an diese experimentellen Schulen mit Tieren. Mir wird immer wieder klar, wie oft in Kindergeschichten Tiere die wahren Helden sind: Hasen, Wölfe, Biber, Vögel... Sie stehen für etwas anderes, bieten echte Alternativen. Dieses Bedürfnis nach Verwandlung ist in der Kindheit stark. Doch es verschwindet oft in der Jugend, als wäre Erwachsensein gleichbedeutend mit Ernst, mit «echter» Arbeit. Das Imaginäre wird systematisch beschnitten. Kein Zufall.

Tatsächlich scheint der Neoliberalismus genau diese menschliche Dimension beschneiden zu wollen: das Recht zu träumen. Deshalb mache ich Theater, in dem Vogelscheuchen Radios bauen, Maulwürfe Opern singen und sogar «Schädlinge» Musik machen. Das ist meine Form von Widerstand.

Aktuell arbeite ich in Hamburg an einem Stück mit Vampiren. Ich liebe Genres: Fantasy, Märchen, Science-Fiction... 2021 inszenierte ich «Fantasmagoria – verwaiste Klaviere», ganz ohne Schauspieler*innen. Klingt traurig, aber auch ein Objekttheater kann zum Träumen einladen, neue Wege suchen.

Eine weitere Besonderheit deiner Arbeit ist der Umgang mit Zeit. Deine Stücke sind oft langsam, kontemplativ, still. Ist das eine Form von Widerstand gegen die Beschleunigung der Welt? Ein Gegenvorschlag zur Ökonomie der Angst?

Ja, auf jeden Fall. Sanftheit und Ruhe sind für mich essenziell. Ich inszeniere keine klassischen Tragödien, Gewalt ist kein Motor meiner Dramaturgie. Ruhe schafft Vertrauen, Zuhören, Empathie. Diese Langsamkeit ist eine Einladung: Gemeinsam da sein, in einem anderen Rhythmus. Und diese Langsamkeit lässt sichtbar werden, wie Theater entsteht: wie sich ein Bild formt, ein Raum ordnet, eine Landschaft wandelt. In «Le Jardin des Délices» zum Beispiel sieht man eine Gruppe in einer Wüstenlandschaft um ihren grossen Bus streifen. Bei mir gibt es wenig Chaos, kaum Kämpfe oder Morde – das ist eine bewusste Entscheidung.

Es ist eine Form der Entschleunigung. Paul Virilio sagte einst: Wir müssen den Planeten verlangsamen. Diese Idee hat mich geprägt. Seit der industriellen Revolution rasen wir vorwärts – immer schneller, weiter, profitgieriger. Ein kollektiver Rausch. Ich sehe mich manchmal als Neo-Romantiker. In München habe ich ein Stück inszeniert, inspiriert von Caspar David Friedrich. Ein Blick zurück auf das Ende der Romantik, als man noch den Nebel betrachtete, bevor Kohle, Elektrizität und Maschinen alles beschleunigten.

Das Theater erlaubt uns, innezuhalten. Heldenhafte Maulwürfe zu sehen, singende Vogelscheuchen. Dinge, die im echten Leben selten möglich sind, aber auf der Bühne real werden. Und wichtig sind.

Zum Abschluss eine strukturelle Frage: Wie steht es um die Ökologie des Theaterbetriebs selbst? Gerade internationae Festivals hetzen oft von Neuheit zu Neuheit. Wie denkst du darüber?

Eine wichtige Frage. Deshalb freue ich mich so, nach Zürich zu kommen, um «Farm Fatale« zu zeigen. Das Theater Spektakel ist ein Festival, das neue Kreationen zeigt, aber auch langlebige Werke pflegt.

«La Mélancolie des dragons» wird bald 20 Jahre alt. Das ist im Theater selten. Meist geht es um das Neue, das Aktuelle, die Frage: «Was macht er dieses Jahr?» Aber manche Werke haben eine nachhaltige Resonanz. Und das ist auch ökologisch: Keine Kultur der Wegwerfkunst. Ein Stück für zwei Vorstellungen produzieren und dann entsorgen – das ist absurd.

Künstler*innen wie Pina Bausch, Maguy Marin, Bob Wilson haben Repertoirearbeit verteidigt. Das ist kostbar. Und ich bin froh, dass euer Festival diese Kontinuität ermöglicht.

Ich arbeite seit langem mit einem festen Kern von Weggefährt*innen. Keine Kompanie im klassischen Sinn, aber eine stabile Konstellation. Der Schauspieler Gaëtan Vourc'h war schon bei meinem ersten Stück dabei, heute spielt er auch in «Farm Fatale». Auch Sébastien Jacob ist seit 2003 Teil des Teams. Manchmal wird jemand ersetzt, wie in einem Orchester. Die Urbesetzung von «Farm Fatale» entstand in München und hat ihre Rollen weitergegeben. Das gefällt mir: Werke, die sich weitertragen, verwandeln.

Ich achte auch auf Recycling meiner Bühnenbilder und Requisiten: Die Auto-Requisite aus «La Mélancolie des dragons» spielte in drei Produktionen mit. Masken und Scheinwerfer in «Farm Fatale» stammen teils aus den 70ern und 80ern. Brigitte Frank vom Münchner Kammerspiele-Maskendepartement gab mir alte Masken, die wir für unsere Schauspieler anpassten.

In «Farm Fatale» habe ich diese Distanz gesucht: die Schauspieler als stoffene, nostalgische Puppen, fast marionettenhaft, die ernste Themen anders verhandeln – Umweltverschmutzung, Pestizide, Bodenerosion… Wir sind Teil einer Kette ethischer Entscheidungen, nicht nur ästhetischer oder politischer. Mit denselben Menschen zu arbeiten, ist auch eine Absage an ständige Castings, an den Zwang zum Neuen. Ökologie betrifft nicht nur die Natur. Sie zwingt uns, auch unsere künstlerischen Praktiken zu hinterfragen.

Künstler*innen wie Bob Wilson, Pina Bausch haben mit langlebigen Werken Theatergeschichte geschrieben. Maguy Marin tourt seit 40 Jahren mit «May B», inspiriert von Beckett. Auch Miet Warlop, Marlène Monteiro Freitas, Gisèle Vienne, Boris Charmatz – sie alle entwickeln ihre Gesten über Jahre hinweg weiter. Das ist auch eine Form von Ökologie. Wir brauchen Kontinuität, Rückblicke, um zu verstehen, was aus Werken wird. Ich hoffe, wir finden auch neue Wege des Tourens. Es ist nicht das Fliegen, das mich beelendet – sondern der Druck, gute und wichtige Arbeiten zu «entsorgen», da sind nicht mehr brandneu sind.

Credits
Interview: Lea Loeb
Das Gespräch fand auf Französisch statt
Übersetzung ins Deutsche: Lea Loeb
Übersetzung ins Englische: Franziska Henner
Portraitfoto: ©Amélie Blanc
Fotos aus «Farm Fatale»: @Patrick Berger, @Guto Muniz (www.focoincena.com.br)