Der Körper als Archiv

Dorothée Munyaneza | @PatCividanes_Antro Positivo

«… Geschichte liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern wird Tag für Tag von den Menschen, besonders von der Jugend, geschrieben.»

Dorothée Munyaneza verschreibt sich als multi-disziplinäre Künstlerin in ihren Arbeiten der Erinnerung und der Sichtbar- und Hörbarmachung ausgelöschter oder verlorener Stimmen, Geschichten und Körper. Ausgehend vom Hier und Jetzt erschafft sie Räume, in denen Vergangenheit und Zukunft in verwobene Gleichzeitigkeit aufleben; voller Freude an der Begegnung zwischen tradiertem Wissen und zeitgenössischer Verkörperung.

Die ruandische Choreografin, Musikerin, Sängerin und Performerin zog als Kind mit ihren Eltern nach England und lebt nun in Frankreich, wo sie 2013 ihre Company «Kadidi» gründete. Musik, Gesang, Text und Bewegung sind die Ausdrucksformen, mit denen Munyaneza arbeitet, wobei sie teilweise auch selbst auf der Bühne steht. Mit ihren Stücken tourt sie weltweit und prägt massgeblich die französische Tanz- und Theaterszene, unter anderem in Marseille und Paris. 2021 war Dorothée Munyaneza mit dem Stück «Mailles» bereits zu Gast beim Theater Spektakel. In diesem Jahr sind zwei ihrer Werke, «Toi, Moi, Tituba» und «umuko», in Zürich zu sehen, die einen vertieften Einblick in das vielseitige Werk dieser Künstlerin gewähren.

 

Dein Stück «umuko» ist voller ungezügelter Freude und Schönheit. Was bedeutet «umuko»?



Der Umuko ist ein Baum, der in Ruanda heimisch ist. Seit Jahrhunderten ist er ein fester Bestandteil der ruandischen Kultur und Mythologie und besticht durch seine leuchtend roten Blüten. Die Landschaft Ruandas ist den Grossteil des Jahres von üppigem Grün geprägt, das in allen erdenklichen Nuancen erstrahlt. Und dann, mitten in diesem Grün, strahlen diese roten Blüten hervor. Als Kind, das in Ruanda aufwuchs, war ich von diesem Baum fasziniert. Also fragte ich meine Ältesten, besonders meine Grossmütter, was es mit diesem Baum auf sich habe. Sie erklärten mir, dass er in unserer Kultur und religiösen Praxis einst eine grosse Bedeutung hatte und dass seine Blüten heilende Kräfte besässen. Es ist wirklich ein wunderschöner Baum.

Als Ruanda kolonialisiert wurde – zunächst als deutsches Protektorat und später unter belgischer Herrschaft – wurde die Kultur rund um diesen Baum, die Mythen und die Symbolik, die er verkörperte, ausgelöscht. Wir wurden gewaltsam und mit Zwang zum Christentum bekehrt. Alles, was dieser Baum in unseren indigenen Gesellschaften symbolisierte, wurde verdrängt oder gar verboten. Doch der Baum selbst blieb und existiert noch heute. Für mich steht «umuko» für diese Fragen: Was waren wir? Welche Geschichte trugen wir in uns? Welche Erzählungen lebten wir in vorkolonialer Zeit? Und was bedeutet dieser Baum heute, wenn seine ursprüngliche Bedeutung entweder vergessen oder, in manchen Fällen, nur noch heimlich von Generation zu Generation weitergegeben wird?

Für «umuko» bist du nach Kigali gereist, um mit den dort aktiven jungen Künstler*innen zu arbeiten.



Wann immer ich nach Ruanda reiste, dachte ich darüber nach, wie ich mich mit der Vergangenheit, aber auch mit der gegenwärtigen Geschichte und der jungen Generation verbinden könnte. Denn Geschichte liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern wird Tag für Tag von den Menschen, besonders von der Jugend, geschrieben. Also suchte ich nach ihren Narrativen und Zielen. Was streben sie an? Was wollen sie? Wo liegt ihre Kraft? Ich wollte nicht nur die Wurzeln dieses Umuko-Baums erforschen, sondern auch seine Äste und Blüten – die Gegenwart der jungen Menschen, die heute die Kultur Ruandas prägen.

Ich interessiere mich dafür, wie junge Menschen heute ihre Lebensgeschichten erzählen. In «umuko» geht es nicht nur um Menschen, sondern um das Lebendige; auch Erinnerung ist lebendig. Wenn wir über Kulturen oder Menschen sprechen, halten wir ihre Erinnerung am Leben. Diese jungen Künstler*innen beleben und verkörpern für mich etwas, das die Sichtweise des Publikums auf die Welt inspiriert – oder sogar die Sicht auf die Ruander*innen. Oft, wenn wir über mein Land sprechen, ist das erste, was einem in den Sinn kommt, der Völkermord an den Tutsi 1994. Natürlich ist dies ein zentraler Moment in unserer Geschichte und prägt die Art und Weise, wie wir heute leben. Aber ich möchte auch daran erinnern, dass wir eine Geschichte vor diesem Zeitpunkt hatten – vor der Kolonialisierung, vor der Bekehrung zum Christentum. Es geht darum, wer wir heute sind und wer wir gestern waren, bevor wir verwundet wurden.

umuko... | @Patrick Berger

Welche künstlerischen Praktiken bringen die fünf Performer*innen von «umuko» mit, und was hat dich an ihnen fasziniert?

In unserer Zusammenarbeit ging es um das Teilen von Wissen, Geschichte, Geschichten und künstlerischen Praktiken. In der Gruppe sind Musiker*innen, Tänzer*innen, Komponist*innen, Instrumentalist*innen, Sänger*innen, Filmemacher*innen, Modedesigner*innen, und jemand ist auch Musikproduzent*in. Diese Vielseitigkeit an Talenten und ihr transdisziplinärer Ansatz ziehen mich sehr an, und ich wollte dies in das Werk einfliessen lassen. Es ist eine Gruppe von Menschen, die die ruandische Kunstszene gerade massgeblich prägen und beleben. Alle sind einerseits mit dem Wissen ihrer Vorfahren verwurzelt, andererseits aber auch stark mit der Zukunft verbunden.

Während des kreativen Prozesses begleitete mich ein prägendes Wort: «ejo». Auf Kinyarwanda bedeutet es sowohl «gestern» als auch «morgen». Ich wollte die Vergangenheit und die Zukunft durch diese junge Generation von Künstler*innen verbinden und den gegenwärtigen Moment als Raum nutzen, um diese beiden Chronologien zusammenzuführen. Dieses Werk feiert ihr Handwerk, ihre Kunstfertigkeit, ihre Geschichten und ihre Schönheit.

Sie kennen vieles, was mir unbekannt ist – uralte Gedichte, Lieder und von ihren Vorfahren überlieferte Geschichten. Ich wollte ihnen nicht nur etwas vermitteln, sondern auch von ihnen lernen. Sie bereichern mich, füttern mich, lehren mich. Ich wachse mit ihnen und sehe gleichzeitig die Auswirkung, welche die Auseinandersetzung mit meiner künstlerischen Vision auf ihre eigenen Praktiken hat. Es geht also darum, diese Geschichten und Wurzeln miteinander zu verweben, um wirklich gemeinsam zu erblühen. In diesem Werk steckt viel Hoffnung.

Du hast darüber gesprochen, dass Erinnerung und Geschichte in den heutigen Körpern und Köpfen lebendig sind und auch wieder zum Leben erweckt werden können. Ich würde sagen, dass dies ein Thema ist, das «umuko» mit einem anderen deiner Werke verbindet, das wir in Zürich sehen werden: «Toi, Moi, Tituba», eine Solo-Performance mit dir als Darstellerin.


Für dieses Werk habe ich zwei Referenzen verwendet. Eine davon ist Maryse Condés Buch «Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem», ein fiktionales Werk, das sie schrieb, nachdem sie auf eine Zeile in einem Text gestossen war: «Tituba, die schwarze Hexe von Salem», und zwar in den Protokollen des Hexenprozesses von Salem, in dem Tituba verurteilt wurde. Ausgehend von diesem Titel erschuf Maryse Condé eine ganze Biografie. Indem sie sich vorstellte, wer Tituba hätte sein können, erweckt sie sie buchstäblich zum Leben. Sie gibt ihr einen Körper, ein Herz, Liebe und allerlei heilende Kräfte.

Die andere sehr wichtige Referenz ist «Me, You, Us: I, Tituba and the Ontology of the Trace» der Philosophin Elsa Dorlin. Sie nutzt Maryse Condés Fiktion, um das Leben derer zu thematisieren, die unsichtbar gemacht und aus den administrativen westlichen Archiven ausgelöscht wurden, wobei der transatlantische Sklavenhandel einen besonderen Fokus bildet. Interessiert an dieser Auslöschung, kehrte sie in diese Archive zurück, um ihr Volk, ihre Linie – Elsa Dorlins Vorfahren stammen aus Französisch-Guayana – zu finden und entdeckte schliesslich ihre Urgrossmutter Isabelle. Dieser gesamte philosophische Text wurde als Hommage an ihre Vorfahrin geschrieben, um sich mit denen wieder zu verbinden, die unsichtbar gemacht wurden. Es gibt einen wunderschönen Satz in ihrem Text: «Tituba zu werden, sich um die Leben zu kümmern, die in den Archiven liegen.»

Für mich ist «Toi, Moi, Tituba» eine Hommage nicht nur an Tituba als existierende Figur, sondern an all jene anderen Figuren, besonders Frauen, die vielleicht nur als Spuren in Archiven existieren – nur ein Name oder eine Zahl – oder die vollständig aus der Geschichte gelöscht wurden. Denn oft wurde Geschichte von Männern geschrieben, meist von weissen europäischen Männern.

Zurück zu meiner Arbeit: Wie kann ich als Künstlerin afrikanischer Abstammung, die in Europa lebt und Wurzeln auf verschiedenen Kontinenten geschlagen hat, auch über diejenigen sprechen, die vergessen wurden? Die Erinnerungen an sie, die ich in mir trage, besonders durch meine Vorfahren und Grossmütter – die zu ihrer Zeit ebenfalls Heilerinnen waren – sind sowohl implizit als auch intim mit meiner eigenen Geschichte verbunden. Aber ich ehre auch aktiv ihr Andenken, indem ich Tituba werde oder zu ihr zurückkehre. Ich suche nach Wegen, das Archiv durch Musik, Choreografie, Klang und meine Stimme zu aktivieren, um die verschiedenen Welten – die sichtbare und die unsichtbare – zusammenzuführen. Die Frage ist: Wie kann Kunst, wie kann Performance, zu einem Raum der Erinnerung werden?

«Toi, moi, Tituba…» | @Dajana Lothert

Ein weiteres Element, das «umuko» und «Toi, Moi, Tituba» verbindet, ist die Musik. Du hast deine Karriere als Musikerin begonnen, oder?

Ja. Ich habe Musik und Gesang in England studiert, ebenso wie Sozialwissenschaften. Musik hat immer eine zentrale Rolle in meiner Arbeit gespielt.

Wann kommt die Musik in den kreativen Prozess? Entsteht zuerst eine musikalische Komposition, aus der du das Stück entwickelst, oder ist es eher ein organischer Prozess?

Für mich ist es wirklich ein organischer Prozess, bei dem ich das eine nicht vom anderen trennen kann. In der Zusammenarbeit mit Musiker*innen, wie zum Beispiel Khyam Allami in «Toi, Moi, Tituba» oder den Musiker*innen und Tänzer*innen aus «umuko», entwickeln sich Musik und Tanz immer gleichzeitig.

Wie vibriert der Körper mit den Frequenzen der Musik? Wenn der Körper sich bewegt, welche Art von Musik erschafft er? Welche Art von Stimme, welcher Schrei entsteht aus diesem Körper? Welches Lachen? Choreografie ist für mich Rhythmus, Vibration und Resonanz. Musik und Tanz sind also eng miteinander verwoben.

Ein weiterer Aspekt ist mein Interesse an Erzählungen und Geschichten, weshalb Worte für mich eine zentrale Rolle spielen. Worte haben Rhythmus, Sprachen haben Rhythmus. Mich interessiert die Vielschichtigkeit, die durch Musik, Choreografie, Worte, Gedichte und Bilder entsteht und unser Verständnis sowie unsere Wahrnehmung des Werkes erweitert.

Wie entwickelst du diese Ko-Kreation mit den Musiker*innen?

Zum Beispiel spielt der Musiker Jean Patient Nkubana in «umuko» die Inanga, ein traditionelles ruandisches Saiteninstrument. Ich liebe dieses Instrument seit meiner Kindheit, aber ich wollte es anders hören, auf eine neue Weise erleben. Also bat ich Jean, die Inanga in der gewohnten Weise zu spielen, aber auch mit dem Instrument zu experimentieren, zum Beispiel indem er auf den Korpus trommelte oder einen Bund hinzufügte. Da er ohnehin schon offen für Experimente ist und sehr mutig an seine Kompositionen herangeht, war es einfach, ihn in diesen kreativen Prozess einzuführen.

Ich liebe die Zusammenarbeit mit anderen Musiker*innen, die gewagt ist und unser Engagement für unser Handwerk erneuert. Meine Kolleg*innen zeichnen sich ebenfalls durch eine grosse Fähigkeit zur Improvisation aus. In meine Arbeit fliessen häufig improvisierte Elemente ein, sowohl in der Musik als auch in der Choreografie. Um in diesem Bereich zu arbeiten, muss man ein Gefühl für Freiheit entwickeln. Es wird einem nicht einfach überlassen; man muss es ergreifen und sich zu eigen machen.

umuko... | @Patrick Berger

Du warst kürzlich mit «umuko» auf Tour. Wie war es, mit diesem Werk unterwegs zu sein?

Es ist immer gut, auf Tour zu gehen, besonders heutzutage, wo Gruppen mit vielen Kürzungen, Einschränkungen und Unsicherheiten zu kämpfen haben. Besonders bei «umuko» ist es für mich von grosser Bedeutung, mit Künstler*innen aus Ruanda zusammenzuarbeiten und mit ihnen auf Tour gehen zu können. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter, besonders in einer Zeit, in der überall Mauern gebaut werden, so viele Kriege stattfinden und so viel Rassismus, Xenophobie, Homophobie, Islamophobie und Antisemitismus herrschen. Es gibt so viel Gewalt in dieser Welt. Als Künstler*innen können wir einen Beitrag leisten, indem wir Brücken bauen, Räume für Zusammenarbeit und intime Begegnungen schaffen, poetische Räume, in denen wir uns gesehen, gehört und gefeiert fühlen können.

Wir begannen unsere Tour mit «umuko» im Februar und reisten nach Frankreich, Belgien und Deutschland. Doch wir stiessen auf Probleme, weil drei der Künstler*innen ihr Visum verweigert wurde, also mussten wir den Antrag erneut stellen. Während wir auf die Genehmigung warteten, sagte ich zu einigen der Menschen an den Veranstaltungsorten, an denen wir auftreten sollten: Wenn uns diese Visa verweigert werden, wäre das nicht nur ein Verlust für unsere Gruppe, sondern auch für euer Publikum, das diese Begegnung und die Möglichkeit, in unsere Welt einzutauchen, verpassen würde. Es ist keine Einbahnstrasse. Wir sind alle miteinander verbunden. Als Performance-Künstler*innen brauchen wir Räume, in denen unsere Stimmen widerhallen können. Aber das Publikum braucht ebenso die Möglichkeit, unsere Arbeit zu erleben. Ohne Künstler*innen auf der Bühne verlieren diese Räume ihren Sinn. Es ist unsere Präsenz, die diese Räume zum Leben erweckt.

Ich denke, es ist wichtig, ab und zu die Perspektive auf das Verhältnis zwischen Künstler*in und Publikum zu verändern. 

Ja. Wenn man nur mit den Menschen zusammen ist, die man kennt, und keine anderen Perspektiven zulässt, verpasst man so viel. Es gibt so vieles, was uns entgeht, wenn wir uns nicht auf neue Sichtweisen einlassen. Für mich geht es genau darum: Wie verbinden wir uns mit anderen Menschen, Kulturen, Geschichten und Erfahrungen? Wie öffnen wir uns für alternative Erzählungen? Denn genau das erweitert unsere Wahrnehmung und öffnet unsere Herzen. Es hilft uns zu begreifen, dass wir alle miteinander verbunden sind.

Credits
Interview: Marta Piras
Das Gespräch fand auf Englisch statt
Übersetzung ins Deutsche: Franziska Henner
Portraitfoto: PatCividanes_Antro Positivo
Fotos aus «umuko»: Patrick Berger
Fotos aus «Toi, moi, Tituba…»: Dajana Lothert