Der ungehorsame Blick

Ein Interview mit Charles Heller von Border Forensics

 

Die Rechercheagentur Border Forensics, hervorgegangen aus dem Forschungsprojekt Forensic Oceanography, beschäftigt sich mit Mitteln der Wissenschaft, der Forschung, der Architektur, der Kunst und – wie der Name sagt – der Forensik, mit schweren Verletzungen der Menschenrechte; speziell mit der Gewalt an Grenzen. Ihre Arbeiten, welche sich gegen jegliche Kategorisierung sträuben, werden sowohl als Beweismittel bei Gerichtsverhandlungen verwendet, als auch im Kunstkontext präsentiert. Beim Zürcher Theater Spektakel ist eine Installation mit zwei Videoermittlungen zu sehen. Im Gespräch erläutert Charles Heller, Leiter des Border Forensics Teams, die Vielschichtigkeit der Ermittlungsarbeit und die Frage, wie diese an Sichtbarkeit gewinnen kann.

Border Forensics am Zürcher Theater Spektakel. © ZTS / Kira Kynd


Marta Piras: Du hast vorgeschlagen, mit den Grundlagen zu beginnen. Was ist also eine Grenze?

Charles Heller: Im Denken eines Philosophen namens Etienne Balibar – der für mich und für uns sehr einflussreich war – wird unter Grenzen mehr verstanden, als die territoriale Grenzziehung an den Rändern von Staaten. Grenzen errichten ein Regime des Ein- und Ausschlusses bestimmter Subjekte, welches auf Staatsbürgerschaft, Klasse, Rasse und manchmal auch auf Geschlecht basiert.

Grenzen funktionieren also nicht für jeden auf die gleiche Weise, nicht wahr? Eine Person aus dem globalen Norden, welche als Tourist*in in relativer Freiheit reist, hat eine völlig andere Erfahrung mit Grenzen als ein*e illegalisierte*r Migrant*in aus dem globalen Süden. Für erstere Person verschwinden die Grenzen in der Regel, für letztere können sie den gesamten Lebensweg hinweg bestimmen.  Grenzen sind in der Tat eine politische Technologie, die dazu dient, die sozialen Grenzen von Klasse und Rasse auf globaler Ebene zu kontrollieren. Grenzen entstehen, sie materialisieren sich dort, wo das Verhältnis von Ein- und Ausschluss kontrolliert wird, und das kann weit weg von der Grenzlinie sein.

Kann das Verständnis von Gewalt in ähnlicher Weise erweitert werden? Warum ist es überhaupt wichtig, diese Begriffe zu erweitern?

Nach einem strengen Verständnis von Grenze als Linie und von Gewalt als direkter Gewalt wäre alles, was man als Grenzgewalt wahrnehmen könnte, sagen wir: ein Grenzbeamter, der eine Person schlägt oder erschiesst, wenn sie versucht, die territoriale Linie einer Grenze zu überschreiten.  Aber ein solch begrenztes Verständnis verschliesst die Augen vor vielen anderen Möglichkeiten, in denen die Existenz und Organisation von Grenzen Schaden verursacht.

Nimm zum Beispiel den «Liquid Traces: The Left-to-die Boat Case», eine unserer ersten Arbeiten, die wir hier beim Zürcher Theater Spektakel vorstellen. Geschehen im Jahr 2011, mit einer Gruppe von 72 Menschen, die die Küste Libyens verliessen, um Italien zu erreichen. Trotz ihrer wiederholten Notrufe und trotz wiederholter Interaktionen mit militärischen Akteuren wurde das Schiff 14 Tage lang im maritimen Überwachungsgebiet der NATO treibend zurückgelassen. Niemand hat die Körper dieser Menschen berührt, richtig? Es wurde ihnen keine direkte Gewalt angetan. Die 63 Passagiere, die während des vierzehntägigen Treibens starben, starben an Dehydrierung, sie sind ertrunken... Sie wurden von den Winden und Strömungen getötet, die das Boot trieben. Doch damit es zu dieser Form der indirekten Gewalt kommen konnte, mussten sie zunächst einmal illegalisiert werden. Es musste ihnen der Zugang zu sicheren, legalen Transportmitteln verwehrt werden. Und mehrere Akteure – die italienische Küstenwache, die maltesische Küstenwache, NATO-Kriegsschiffe aus verschiedenen europäischen und aussereuropäischen Mitgliedstaaten –, die nach internationalem Seerecht verpflichtet sind, jede Person zu retten, die sich in Seenot befindet – mussten eine Form der gewaltsamen Untätigkeit und des Geschehenlassens praktizieren, die diese Menschen tötete, ohne ihre Körper jemals zu berühren.

Es ist also absolut notwendig, das, was wir als Grenze verstehen, und das, was wir als Gewalt verstehen, zu erweitern – sonst werden wir nicht in der Lage sein, dieser Vielfalt von Formen der Grenzgewalt Rechnung zu tragen. Genau hier setzt unsere Arbeit an: Es geht darum, diese weniger offensichtlichen Formen der Grenzgewalt als solche sichtbar und verständlich zu machen.

Die Videoinstallation, die ihr hier am Theater Spektakel zeigt, verdeutlicht diese Art des «Sichtbarmachens» sehr gut. Besteht eure Arbeit also hauptsächlich aus der Visualisierung?

Also wir führen nicht zuerst eine Untersuchung durch und denken dann: Oh, wie sollen wir das visualisieren? Vielmehr sind die Methoden der räumlichen und visuellen Analyse – die teilweise aus der Kunst, Architektur oder aus dem Kino herrühren – die Mittel der Untersuchung. Sie sind kein Produkt, das hinterher entsteht. Jede Untersuchung erfordert, dass wir neue Werkzeuge schmieden, um die verschiedenen Formen der Grenzgewalt zu erfassen. Und sie erfordert auch, dass wir die folgenden Fragen neu stellen: Was versuchen die Staaten zu verbergen und was versuchen sie zu präsentieren? Wir versuchen, die Konfiguration von Sichtbarem und Unsichtbarem, die von den Staaten in Bezug auf Migration und Grenzen auferlegt wird, umzukehren, indem wir einen – wie wir es nennen – «ungehorsamen Blick» ausüben.

 

Ein Blick in den Schiffscontainer, in welchem eine der beiden Videoermittlungen gezeigt wird. © ZTS / Kira Kynd


Was sind die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Rechtssystems – und warum zeigt ihr eure Untersuchungen auch in Kunst- oder Kulturräumen?

Wir versuchen natürlich, wann immer es möglich und sinnvoll ist, die von uns dokumentierten Formen der Gewalt in legale Gesetzesverstösse zu übersetzen. Denn nur so kann überhaupt Raum entstehen, in dem die Opfer von Grenzgewalt ihre Forderungen nach Wahrheit und Rechenschaft vorbringen können, und in dem die Sanktion des Gesetzes die Gewalt der Staaten zumindest vorübergehend begrenzen und blockieren kann. Aber die Räume und die Sprache des Rechts sind äusserst limitiert und auf unterschiedliche Weise problematisch.

Bis heute weigern sich die Rechtsinstitutionen trotz unserer Untersuchungen und trotz unserer ausserordentlichen Mobilisierung, die Gewalt anzuerkennen, welche wir im Fall des «Left-to-die Boat» und des Todes von Blessing Matthew, den wir hier zeigen, rekonstruiert und demonstriert haben.

Es scheint mir daher wirklich wichtig, dass wir diese Arbeiten in vielen unterschiedlichen Kontexten zeigen, um uns gemeinsam dagegen zu wehren, dass die Blindheit des Gesetzes und der Staaten zu unserer eigenen wird.

Oder dass wir nicht akzeptieren, dass ein Gericht die einzig gültige Option oder der einzige Raum für Gerechtigkeit ist.

Es gibt eine wachsende Zahl von Denkansätzen, die unsere Arbeit inspirieren und die meist aus der Antirassismus- bzw. der feministischen Bewegung stammen: Transformative Gerechtigkeit ist hier das Stichwort. Die Fragen, die sie aufwerfen, lauten: Sollten wir akzeptieren, unseren Anspruch auf Gerechtigkeit an Staaten zu delegieren? Wenn wir das tun, zu welchem Preis? Und wenn wir die Hypothese aufstellen, dass diese Institutionen unzureichend und problematisch sind, dass wir uns weigern, unsere Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit an diese Institutionen zu delegieren – welche anderen möglichen Praktiken der Gerechtigkeit ergeben sich dann?

Das Zürcher Theater Spektakel präsentiert eine Installation mit zwei Videoermittlungen von Border Forensics. Die Installation ist vom 17.8. bis am 3.9. auf der Landiwiese begehbar, der Eintritt ist frei. Mehr Informationen

 

Credits

Interview: Marta Piras

Aus dem Englischen übersetzt