«Es geht nicht um Gedächtnisverlust – sondern um einen Verlust der Sprache»

Interview mit Jelena Jureša

Die Künstlerin Jelena Jureša (*1974) erforscht in ihrer neuesten, performativen Arbeit «Aphasia» Themen wie kollektive Erinnerungen und Schuld. Das Stück, das auf einem Film und einer Ausstellung gleichen Namens basiert, ist eine Mischung aus Konzertperformance, Clubnacht und Installation und nimmt das Publikum mit zu einer bestimmten Nacht in einem Belgrader Club, in der eine Frau den DJ als Kriegsverbrecher erkennt, den man vor allem aus einer berühmten Kriegsfotografie des Fotojournalisten Ron Haviv kennt. Jureša wird das Stück am Zürcher Theater Spektakel 2023 zeigen. Bevor sie am Festival auftritt, hat sie sich mit Autorin Anna Froelicher über die Entstehung von «Aphasia» unterhalten, und darüber, wie die clubartige Atmosphäre des Stücks das Publikum involviert und dabei die wiederkehrenden Traumata der Nachkriegsgesellschaft thematisiert.

 

Anna Froelicher: Der Ausgangspunkt von «Aphasia» war ein Kriegsfoto von Ron Haviv, das drei am Boden liegende Körper und drei bewaffnete Männer zu Beginn des Bosnienkrieges zeigt. Es ist weithin wegen seiner ethischen Kontroverse bekannt. Wie bist du darauf gestossen?

Jelena Jureša: Im Buch, das anlässlich der Filminstallation und Einzelausstellung von «Aphasia» im ARGOS-Zentrum für visuelle Künste im Jahr 2019 veröffentlicht wurde, gibt es einen Text mit dem Titel «Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich dieses Foto zum ersten Mal gesehen habe», der sich auf das Bijeljina-Foto bezieht. Während der Neunzigerjahre und des Krieges in Bosnien war das Internet nicht das, was es heute ist; darum war das Foto, insbesondere in Serbien, wenig bekannt. Auch hätte das Regime von Slobodan Milošević zu verhindern gewusst, dass es in einer serbischen Zeitung oder im Fernsehen hätte veröffentlicht werden können. 2002 gab es aber in einigen serbischen Städten Ausstellungen, in deren Rahmen Fotografien der Jugoslawienkriege von Ron Haviv gezeigt wurden. Ich erinnere mich an den Aufschrei und den Protest, mit dem diese Fotografien in Serbien aufgenommen wurden. Es gibt eine wunderbare und beunruhigende Dokumentation in Form eines Kurzfilms und eines Buches, das im Zuge der Ausstellung in Novi Sad veröffentlicht wurde – von Maria Gajicki, Leiterin der Vojvodjanka, einer regionalen Fraueninitiative, die Havivs Ausstellung in ganz Serbien organisierte. Man konnte sehen, wie die meisten Männer im Film gegen die Identität der Täter und die Authentizität der begangenen Verbrechen protestierten und diese verleugneten. Und diese Kakophonie des männlichen Protests wird von dem Gesicht einer jungen Frau unterbrochen, die ihren Horror und ihre Trauer nach der Begegnung mit diesen Fotos zum Ausdruck bringt. Der Film erinnert mich immer an «East of War», eine Dokumentation der österreichischen Regisseurin Ruth Beckermann, in der Besucher*innen, einige von ihnen ehemalige Soldaten, mit einer Ausstellung von Fotografien konfrontiert werden, die die Verbrechen der deutschen Wehrmacht dokumentieren.

Was hat dich dazu bewegt, ein Kunstwerk um das Foto zu schaffen?

In meinen Augen adressiert dieses Foto und seine Rezeption sehr stark die Frage der Mitschuld. Ich war immer an dieser Frage interessiert, besonders als jemand, der während des Krieges in Serbien gelebt hat. Zu verstehen, wie schnell Kriege uns verändern können, wie jemand, der gestern noch dein nettester Nachbar war, am nächsten Tag dein Feind werden kann, wurde fast zu einer Obsession von mir. Aber erst als ich 2014 nach Belgien zog, begann ich mit der Journalistin Barbara Matejčić ein Gespräch über dieses Foto und die Identität eines der abgebildeten Soldaten, der jetzt unter seinem Alter Ego DJ Max bekannt ist. Ich habe mich nicht dazu entschieden, eine Arbeit um das Foto zu schaffen, einfach weil es existiert. Ich fing an, daran zu arbeiten, da ich mich mit unserer Nähe zu Täter*innen auseinandersetzen wollte; mit Fragen der Mitschuld, und den Systemen und Umständen, die es DJ Max ermöglichen, frei herumzulaufen.

Im Film wie auch in der Performance hast du dich dazu entschieden, das Foto nicht zu zeigen. Es bleibt der Vorstellungskraft der Betrachter*innen überlassen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Es war von Anfang an klar, dass ich dieses Foto nicht zeigen wollte. Es gab viele Gründe für diese Entscheidung. Einer davon ist, dass ich keine leidenden Menschen zeigen möchte, die keine Stimme mehr haben und handlungsunfähig sind. Viele Texte wurden über das Foto geschrieben und viele Intellektuelle haben es analysiert – ich spreche hier nicht von Susan Sontag, die ausführlich darüber in einem ihrer Bücher schrieb, oder Jean-Luc Godard, der einen Kurzfilm dazu gemacht hat –, sondern von den akademischen Kreisen, die von diesem einen Soldaten fasziniert bleiben, gleichsam verzaubert von der Grausamkeit seiner Tat wie von seiner Eleganz. Aber was ist mit der Identität der anderen beiden Soldaten im Hintergrund des Fotos, die deutlich erkennbar sind? Für mich war die Frage, was dieses Foto nicht zeigt, genauso wichtig wie die Frage, was es zeigt. Andererseits muss ich das Foto nicht zeigen, um die Dimension des unverzeihlichen Verbrechens anzugehen, das innerhalb und ausserhalb des Fotos begangen wird.

 

1/5 Foto aus Jelena Jureša Performance «Aphasia». © Jelena K. Vorgucin
2/5 Foto aus Jelena Jureša Performance «Aphasia». © Jelena K. Vorgucin
3/5 Foto aus Jelena Jureša Performance «Aphasia». © Jelena K. Vorgucin
4/5 Foto aus Jelena Jureša Performance «Aphasia». © Jelena K. Vorgucin
5/5 Foto aus Jelena Jureša Performance «Aphasia». © Jelena K. Vorgucin

Es gibt diesen Topos in der Fotografie, den auch du in deinem Werk ansprichst – dass «gute» Bilder keine weitere Erklärung benötigen würden. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz. Du gehst den umgekehrten Weg, indem du das eigentliche Bild nicht zeigst, sondern eine Erfahrung mit Worten und Gesten um das Bild herum schaffst...

Das ist meine Herangehensweise an dokumentarische Fotografie; ich stelle einige dokumentarische Topoi auf den Kopf. Alles in der Fotografie wird von denjenigen vermittelt, die das Foto aufnehmen, aber auch von denjenigen, die es betrachten. Aber was bleibt ausserhalb des Rahmens? Welche Fotos werden veröffentlicht – und welche nicht? Wie beeinflusst die eigene Erfahrung die Art und Weise, wie man das Bild liest? Wir könnten immer von mehreren Ebenen der Zensur sprechen, die in diesen Prozess involviert sind. Im Kern dieses Prozesses steht immer der Blick, eine einzige Perspektive, die vielen aufgezwungen wird. Insbesondere bei einer dokumentarischen Geste jeglicher Art scheint es unmöglich zu sein, dem imperialen Blick zu entkommen. Selbst wenn die Autor*innen dagegen arbeiten, ist die Erwartung des Publikums, über die Hintergründe des Fotos informiert zu werden, unvermeidlich vorhanden.

Warum wolltest du das vorhandene Filmmaterial in eine Performance übersetzen?

Ich wollte einen Schritt weiter gehen als im Film. Ich wollte eine Art zusätzlichen Raum schaffen, einen Ort für die Dinge, über die ich im Film nicht sprechen konnte. Von einem Kriegsfoto fasziniert zu sein, bedeutet auch, als Zuschauerin beteiligt zu sein. Darüber schreibt die Wissenschaftlerin Ariella Azoulay auf brillante Weise: Wie wir als Zuschauer*innen in der Gesellschaft der Fotografie alle irgendwie mitschuldig sind. Ich mache mir sehr viele Gedanken über die Frage der Teilhabe und was es bedeutet, an so etwas wie einem Krieg beteiligt zu sein. Ein performativer Rahmen mit einem Live-Publikum eröffnete mir nun die Möglichkeit, diese Frage auch auf formelle Weise zu bearbeiten, obwohl die Prämisse der Teilhabe eine heikle sein kann. Ich war nicht daran interessiert, sie direkt anzusprechen, sondern vielmehr viele Ebenen der Teilnahme anzugehen und diesen Faden in eine Erfahrung zu übersetzen. Ich hoffte, das Publikum als Teil des Stücks zu integrieren, insbesondere bei der Premiere beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel. In den meisten europäischen Gesellschaften gibt es eine gewisse Vorstellung, dass ein Leben ohne den Einfluss von Politik, historischen Traumata oder kollektiven Brüchen die Norm ist. Und hier lauert die Privilegiertheit. Denn es ist eine Ausnahme, überhaupt nicht die Norm.

1/7 Standbild aus Jelena Jurešas Film «Aphasia». zvg.
2/7 Standbild aus Jelena Jurešas Film «Aphasia». zvg.
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5/7 Standbild aus Jelena Jurešas Film «Aphasia». zvg.
6/7 Standbild aus Jelena Jurešas Film «Aphasia». zvg.
7/7 Standbild aus Jelena Jurešas Film «Aphasia». zvg.

Wie haben deine eigenen Kriegserfahrungen deine Arbeit beeinflusst?

Die Musiker und Komponisten Alen und Nenad Sinkauz sowie die Tänzerin und Performerin Ivana Jozić, die in «Aphasia» die Hauptrollen übernehmen, sind ebenfalls in Jugoslawien aufgewachsen und gehören derselben Generation an wie ich. Die schrecklichen Ereignisse, die zur Auflösung Jugoslawiens führten, haben unsere Sicht- und Herangehensweise geprägt. Ich denke nicht, dass es für mich möglich gewesen wäre, an dieser Performance zu arbeiten, hätte ich diese Erfahrungen nicht gemacht. Auch hätte ich nicht mit Darstellenden zusammenarbeiten können, die nicht eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Es war wichtig, dass wir alle wussten, wovon wir sprachen, denn als Zuschauer*in erlebt man eine Übersetzung dieser geteilten Erfahrung, wenn man «Aphasia» besucht.

Während der Proben zur Performance begann der Krieg in der Ukraine. In gewisser Weise war es zu erwarten, dass die Medienlandschaft der Situation kurz vor den Kriegen in Jugoslawien ähnelte. Es ist sehr schwer in einem Interview zu erklären, wie dieses Gefühl von etwas «Vertrautem» tatsächlich funktioniert. Es roch einfach danach.

Was für mich von ähnlicher Bedeutung war, war die Herausforderung, diese spezielle Geschichte über Krieg und Verleugnung einem westlichen Publikum näherzubringen. Einerseits wollten wir keine Einführung in die Kriege in Jugoslawien geben, obwohl wir wussten, dass dies von uns erwartet wurde, um sozusagen die Lücken zu füllen, weil diese Geschichten in Europa wenig bekannt sind. Darüber hinaus war ich als Migrantin und Frau mehr oder weniger darauf vorbereitet, nicht als zuverlässige Geschichtenerzählerin wahrgenommen zu werden und dass dadurch die ganze Komplexität, die wir in die Arbeit eingewoben hatten, verpasst werden könnte. Stattdessen wollten wir andere Möglichkeiten anbieten, um mit dem Thema umzugehen. Geschichtenerzählen findet durch Schichtungen von Bedeutungen statt, die durch Musik, Film, Verse und Bewegung geliefert werden, eine Art Spirale ohne klar markierten Anfang und Ende. Es funktioniert in Loops, genauso wie Traumata. Man kann es verstehen und manchmal auch nicht.

Traumata korrelieren oft mit dem Verlust von Sprache...

Das ist es, worauf der Titel der Arbeit anspricht, ja. Der medizinische Begriff «Aphasie» beschreibt den Verlust der Sprache oder die Unfähigkeit, vollständige Sätze zu formulieren. Ich sah diesen Begriff als eine sehr potente Analogie, ein Mittel, um darüber nachzudenken, was passiert, wenn Wissen da ist, aber nicht ausgedrückt werden kann. Im Kontext meiner Arbeit ist es die Unfähigkeit, über bestimmte Themen zu sprechen. Wenn wir über historische Verleugnung sprechen, verwenden wir in der Regel Begriffe wie Vergessen oder kollektive Amnesie. Aber meiner Erfahrung nach wissen die Menschen in der Regel, was passiert ist. Es geht nicht um Gedächtnisverlust – sondern um einen Verlust der Sprache.

Wie verhält es sich mit den Machtstrukturen, die bestimmen, was laut ausgesprochen oder stillschweigend akzeptiert wird?

Im Rahmen der Performance setzen wir etwas in den Mittelpunkt, das in Bezug auf die Frage nach Macht sehr ambivalent ist: Musik und Klang tragen mit ihrer komplexen Geschichte dazu bei. Einerseits kann Musik ein wunderbarer Trigger sein, um gute Erinnerungen an vergangene Ereignisse zurückzubringen. Andererseits kann Musik ein Werkzeug sein, um zu rebellieren, sich zu vereinen – doch Musik kann auch als Waffe eingesetzt werden. Es ist bekannt, dass in Gefängnissen wie Guantanamo oder Abu-Ghraib Musik als Folterinstrument zum Einsatz kommt, weil man die Ohren nicht wirklich verschliessen bzw. abschalten kann und der Klang fast alles durchdringt. Ohne direkt physischen Schmerz auf den Körper einer Person auszuüben, kann Musik in einen eindringen und von innen verletzen.

In unserem Fall wollten wir Musik als eine Art Werkzeug inszenieren, um auf einer erfahrungsbasierten Ebene über Populismus zu sprechen. Wie Populismus kann Musik verführerisch sein, es gibt einem ein Gefühl verstanden zu werden, zu verstehen – es braucht nicht viele Worte, man kann einfach tanzen und sich zugehörig fühlen. Durch Populismus und Musik kann ein kollektiver Körper entstehen. Während der Kriege in den 1990er Jahren in Jugoslawien wurde eine bestimmte Ideologie durch das Musikgenre Turbo-Folk populär gemacht. Viele fanden, dass es sehr mitschuldig an der Gewalt war, an der Politik des Vergessens und der Leugnung, die heute zum Beispiel in Serbien herrscht. Aber DJ Max spielt keinen Turbo-Folk in den Clubs in Belgrad – er spielt Technomusik und wird oft als Pionier von Techno und Goa-Trance in Serbien beschrieben. Also trat das sogenannte Monster in bekannten Belgrader Clubs auf und spielte Musik für diejenigen, die sich später daran erinnern würden, dass sie gegen das Regime protestierten und sich selbst in Vergessenheit tanzten. Stattdessen tanzten sie zu der Musik eines Kriminellen. Ich finde auch diesen kulturellen Snobismus interessant: wenn man diese Art von Musik hört, wäre man progressiver als diejenigen, die sowas wie Turbo-Folk hören.

Du hast dich dafür entschieden, eine weibliche Tänzerin einzusetzen, die männliche Gesten der Überlegenheit verkörpert, wie die Choreografie von DJ Max als Soldat – oder die Choreografie eines männlichen DJs, der imposante Songs vor einer Masse spielt. Gibt es aus weiblicher Sicht eine andere Beziehung zur Schuld?

Was die Frage der Verleugnung betrifft, denke ich, dass dies untrennbar mit dem Patriarchat und einem Unterschied in weiblicher und männlicher Perspektive verbunden ist. Ansonsten könnte ich das nicht verallgemeinern. Während eines Krieges sind Frauen und Kinder immer Opfer – aber auch Männer. Also würde ich es nicht wagen, in diesen Kategorien zu denken. Eine weibliche Darstellerin auf der Bühne zu haben, war eine offensichtliche Wahl; sie ergab sich aus der Wahl der Darstellerin im Film. Der Film ist sehr präzise, wenn es um männliche und weibliche Erfahrungen geht. Der Film beginnt mit einer Stimme, die zweifellos einem weissen männlichen Erzähler gehört – etwas, das wir bereits als dokumentarischen Topos erkennen. Es ist eine eindeutig allwissende Autorenposition; aber während des ersten Kapitels wird diese Stimme immer aphasischer, fast hysterisch. Im letzten Kapitel des Films steht eine Frau vor der Kamera und übernimmt die Rolle der Autorin. Nicht nur durch ihre Stimme, sondern auch durch ihre Gesten und ihre Pausen des Schweigens. Der Film endet mit der Bewegung und dem Sound von Ivana Jozić. Es war wichtig, eine Sprache anzubieten, die sich mit einem anderen Modell des Geschichtenerzählens auseinandersetzt.

Jelena Jureša zeigt ihr Stück «Aphasia» am Zürcher Theater Spektakel 2023.

 

Credits

Interview: Anna Froelicher

Aus dem Englischen übersetzt