Die Gewalt anwählen

Essay von Jakob Wunderwald

Der belarusische Schauspieler und Künstler Igor Shugaleev zeigt am diesjährigen Theater Spektakel «375 0908 2334. The body you are calling is currently not available». Mit der aktivistischen Performance will er das Trauma der manipulierten Wahlen im Jahr 2020 und den im Anschluss brutal niedergeschlagenen Protesten in Belarus erzählbar machen. Er begibt sich auf eine Suche nach den Möglichkeiten von Kunst nach dem Scheitern einer Revolution. Eine Einordnung von Autor und Slawistikforscher Jakob Wunderwald.

«375 0908 2334». Anhand einer Telefonnummer erzählt Igor Shugaleevs Performance vom Zerbrechen der belarusischen Realität. Der 9. August 2020 kennzeichnet den Tag und das Jahr der manipulierten Präsidentschaftswahlen («0908»), den Moment, ab dem Belarus sich nicht mehr durch die Vorwahl «375» darstellen liess, sondern durch die Zahlenreihe «2334», dem bei der Niederschlagung der Proteste zentralen Artikel im Strafgesetzbuch. Staatliche Gewalt anstelle von Anwählbarkeit: Der Schlagstock übernimmt.

Die Proteste in Belarus hatten sich über Monate hinweg aufgebaut. Ihr Ursprung lag in der desinteressierten Antwort der Regierung auf die Coronapandemie und der immer autoritärer werdenden Reaktion auf das aufkommende Missbehagen in der Bevölkerung, die in der Festnahme der beiden Oppositionskandidaten Sjarhej Cichanoǔski und Wiktar Babaryka kulminierte. Schon vor den Wahlen strömten zehntausende von Menschen zu den Wahlkampfveranstaltungen des Kandidatinnentrios um die parteilose Bürgerrechtlerin Swjatlana Cichanoǔskaja. Die Wahl am 9. August 2020 endete dann aber wie jede Wahl in Belarus seit den 1990er Jahren: Laut offiziellem Endergebnis gingen über 80 Prozent der Stimmen an Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka. Diese für viele Menschen in Belarus offensichtliche Fälschung des Wahlergebnisses war Auslöser nächtelanger Proteste, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. Darauf folgten monatelange, oft von Frauen angeführte, friedliche Demonstrationen, denen das Regime mit immer stärker eskalierender Brutalität entgegen trat. Bis heute finden sich in den Gefängnissen des Landes tausende politische Gefangene. Die Regierung, gestützt von einem wuchernden Sicherheitsapparat, sitzt fest im Sattel. Die Proteste scheinen gescheitert.

Diese Niederlage der Proteste markiert in den Biografien vieler Belarus*innen einen Riss. Vorher war ein schrittweiser Übergang in eine freiere Zukunft denkbar; eine allmähliche Liberalisierung des Landes; ein langsames Erkämpfen immer neuer Freiräume durch eine aktive Zivilgesellschaft. Das Minsk der 2010er Jahre war zum Beispiel ein Ort, wo laufend neue kulturelle Räume eröffnet wurden, wo sich eine unabhängige Theaterszene entwickelte, wo es jeden Abend eine Performance, eine Lesung, einen Rave zu besuchen gab, wo «etwas ging». Eine europäische Grossstadt, in der alle zwar von den politischen Beschränkungen der eigenen Freiheit wussten, gleichzeitig aber ein Gefühl in der Luft lag, dass diese Beschränkungen einer vergangenen Welt angehörten. 

Die Zukunft wurde derweil im Kulturzentrum Korpus, auf der Bühne des experimentellen Theaters OK16 (finanziert von dem inhaftierten Kandidaten Babaryka) oder in der Galerie Ў ausgehandelt. Selbst im staatlichen Janka-Kupala-Nationaltheater, der grössten belarusischsprachigen Bühne des Landes, gab es Aufregendes zu sehen: Unter der Führung des Intendanten Mikalaj Pinigin wurde in Inszenierungen nach einer belarusischen Identität gesucht, die nicht unbedingt mit der vom Staat eingeforderten Identität konform ging. Die aufwühlenden Schlussbilder in Pinigins Neuinterpretationen von zu Sowjetzeiten lange von den Bühnen verbannten Stücken (wie etwa Janka Kupalas «Tutejšyja»), eröffneten im Zentrum der Hauptstadt einen Möglichkeitsraum. Hier wurde die Bühne zum Modell einer zukünftigen, freieren Gesellschaft, in der die klassischen Werke der belarusischen Literatur ihrer eigentlichen Bedeutung zugeführt werden können – als Basis der Selbstbehauptung einer sich in einem doppelten Emanzipationsprozess befindenden Nation: Widerstand im Inneren gegen die Diktatur, nach aussen gegen die imperialen Ansprüche der mächtigeren Nachbarn.

Der August 2020 machte deutlich, dass die Hoffnungen verfrüht waren. Die Gewalt zeigte sich nicht als überwunden, sondern als definierendes Element einer neuen Gegenwart. Zunächst Polizeiexzesse und Folter in den Gefängnissen, dann die Verhaftungswellen, die über Monate hinweg immer weitere Teile der eben noch so lebendigen Zivilgesellschaft eliminierten. Viele im Kulturbereich tätige Belarus*innen, die vorher zwischen Anstellungen im offiziellen Kulturbetrieb und eigenen Projekten in der freien Szene balancieren konnten, mussten diesen Lebensentwurf aufgeben: Eine Kooperation mit dem Regime war unmöglich geworden. Ein Gutteil der Angehörigen dieser Generation von Künstler*innen findet sich inzwischen in diversen Ländern Westeuropas im Exil wieder und steht vor der Aufgabe einer Reflexion dessen, was passiert ist. Sie müssen die Gewalterfahrung verarbeiten, einen Umgang mit dem eigenen Scheitern finden – müssen lernen, was Kunst in der neuen Realität sein könnte. Wie sie von der Gewalt, den Traumata, den zerstörten Hoffnungen erzählen und vielleicht auch neue Wege finden können.

Das gilt etwa für die Theatergruppe Kupalaǔcy, bestehend aus dem Grossteil des ehemaligen Ensembles des Janka-Kupala-Nationaltheaters, das im Sommer 2020 aus Protest das Theater verliess. Auf Touren durch Europa sowie in YouTube-Vorstellungen setzt die Gruppe das Programm des Theaters fort: Weiterhin geht es um das Erproben einer anderen belarusischen Identität, nunmehr im Bewusstsein dessen, was passiert ist. Inszenierungen von Orwells «1984» oder von «Angst» nach Bertold Brecht widmen sich der Gewalterfahrung und dem Gefühl, dass mit der neuen Realität etwas fundamental nicht stimmt. In London bringt gleichzeitig das schon länger im Exil arbeitende Belarusische Freie Theater Alhierd Bacharevičs dystopischen Roman «Die Hunde Europas» auf die Bühne, der sich mit der Sprachlosigkeit der Kolonisierten auseinandersetzt, damit Belarus meint, und ins Schwarze trifft: Bacharevičs Text gilt in Belarus mittlerweile als «extremistisches Material», eine gesamte Auflage wurde, so hat der Schriftsteller erfahren, mithilfe von Traktoren im Erdreich versenkt. Dank des Exiltheaters kann er trotzdem wirken – die Arbeit im Ausland bedeutet, dass das Gespräch über Vergangenes und Mögliches nicht von staatlicher Seite stillgestellt werden kann.

Igor Shugaleevs Performance hingegen macht sich auf den Weg ins Herz all dieser Gewalt. Der Künstler kniet in der Pose vor dem Publikum, die festgenommene Demonstrant*innen stundenlang einnehmen müssen. Er will erzählbar machen, was die Gewalt mit ihrem Opfer macht und dreht dabei die Gleichung um: Ertragen als Zeichen der Stärke. Wo der Künstler sich mit der Gewalt konfrontieren kann, ist er ihr nicht ganz unterlegen, er ist ihr in gewisser Hinsicht gewachsen. Shugaleev eignet sich die Mechanismen des Unterdrückungsapparats an und leistet damit Widerstand. Die Entkräftung der Repression erfolgt über ihre entlarvende Zurschaustellung auf der Bühne. Die Telefonnummer wechselt ihre Bedeutung – die Gewalt wird angewählt, um sich ihr zu stellen: Zurück in den Sommer 2020, in seine schlimmsten Momente. Auf dass ihre Erfahrung nicht vergeblich war. 

 

Igor Shugaleev zeigt «375 0908 2334. The body you are calling is currently not available» am 30. August 2022 am Zürcher Theater Spektakel. Weitere Informationen

Credits

Text: Jakob Wunderwald
Foto: Alexandra Kononchenko