«Ich arbeite so gern mit Klischees»

Interview mit Ragnar Kjartansson

Wiederholungen sind langweilig? Im Gegenteil, sie sind ein Mittel, dem Ewigkeitsanspruch der Kunst zu entkommen. Ragnar Kjartansson präsentiert am Zürcher Theater Spektakel das Stück «Schmerz», eine über vier Tage, jeweils drei Stunden geloopte Performance auf der Saffainsel im Zürichsee. Mit Themen wie Theatralität und Wiederholung setzt sich der 1976 geborene Künstler schon seit langem auseinander. Seine Arbeiten zeigte er zum Beispiel in Einzelausstellungen im Palais de Tokyo in Paris, im Guggenheim Bilbao oder im Migros Museum für Gegenwartskunst. An einem Sommernachmittag spricht Kjartansson mit Autor Philipp Hindahl über Wiederholung und Tod und erklärt, wie die Besonderheiten der isländischen Kunstszene seine Arbeit prägen, die sich zwischen Theater, Kunst und Musik bewegt.

 

Philipp Hindahl: Ragnar Kjartansson, Ihr Stück «Schmerz», das beim Zürcher Theater Spektakel Premiere feiert, umfasst viele Elemente, die man aus Ihrer Arbeit kennt – Musik, Kollaborationen mit Freund*innen, das Arbeiten mit Loops. Was machen Sie jetzt anders?

Ragnar Kjartansson: Haha… Das ist schwer zu sagen. Ich tendiere dazu, Sachen und mich selbst zu weiderholen. Es reizt mich, situationistische Tableaus zu kreieren; zum Beispiel an einem Sommertag am Zürichsee, wo wir eine verzweifelte Theaterszene auf einer Bühne schaffen, mit anhaltendem Drama, und die Menschen spazieren einfach dran vorbei. Sie essen ein Eis an der Sonne und flanieren – oder wir sind alleine auf der Insel, weil es regnet. Ich habe schon mit solchen Tableaus im klassischen Theater gearbeitet, aber das Problem dabei ist, dass sich das Publikum hinsetzt und zusieht. Ich mag es, dass man an meiner Arbeit einfach vorbeigehen kann.

Sie sind in einer Theaterfamilie aufgewachsen und eigentlich machen Sie doch auch Kunst, an der man eben nicht einfach vorbeigehen kann.

Für mich ist diese Arbeit etwas, das einer Freakshow auf einem Jahrmarkt auf dem Lande ähnelt. Es ist nur eine kleine Szene, aber ich arbeite so gern mit Klischees. In diesem Fall: Opernklischees. Bauern in einer Landschaft, der Mann sagt: «Was habe ich gemacht?» Die Frau antwortet: «Nein!» Danach dramatische Musik, und das wiederholt sich ständig.

Finden Sie, dass die Wiederholung das Tragische aushöhlt und in etwas Komisches verwandelt?

Es wird ausgehöhlt und in Schmerz zurückverwandelt. Wiederholung ist komisch und tragisch, aber auch eine sehr menschliche Erfahrung.

Die Frage «Was habe ich getan?» lässt sich nicht mit «Nein!» beantworten.

Ja, das macht nicht wirklich Sinn. Das ist wirklich ein Stück für die deutsche Sprache. Der dramatische Ton… Die deutsche Kultur ist mit der Operngeschichte verwoben, und damit spiele ich.

Die Saffainsel wurde 1958 von Frauen anlässlich der Ausstellung für Frauenarbeit künstlich angelegt. Wie bezieht sich das Stück auf die Umgebung?

Ich habe viel über diese Insel nachgedacht. Das Stück ist wie eine Skulptur, mit einer kleinen Bühne und einem kleinen Haus voller Schmerz. Die Kulisse ist typisch europäisch. Sie könnte aus einer Aufführung der Oper «Wilhelm Tell» stammen.

Wie romantisch.

Ein romantisches Klischee. Das hat etwas Perverses. Es ist schön, bedrückend und sonderbar.

Sie verweben das alles mit Musik und Theater und beziehen sich in Ihrer Arbeit auch auf die Literatur – zum Beispiel auf Halldór Laxness, den isländischen Autor, der 1955 den Nobelpreis erhalten hat. Wie findet das alles zusammen?

Sehen Sie, heute Morgen habe ich Tom T. Hall gehört, ein US-amerikanischer Countrysänger, der einfache Songs geschrieben hat, die die Bigotterie der US-amerikanischen Gesellschaft andeuten. Daraufhin habe ich leere Eimer gemalt, was sich auf eine seiner Textzeilen bezieht. Literatur und Lyrik, Musik und Malerei, es findet alles seinen Platz.

Haben Sie schon immer gemalt?

Ursprünglich habe ich Malerei studiert, dann wollte ich zu den coolen Kids dazugehören, die Konzeptkunstkurse belegten, und schliesslich habe ich Performances gemacht. Das hat sich ganz natürlich ergeben, denn ich bin mit dem Theater aufgewachsen und habe damals in einer Band gespielt. Um das Jahr 2000 waren feministische Kunst und Performance das Interessanteste, was es gab – diese Sachen waren voller Leben und Dringlichkeit. Also wollte ich auch dorthin.

Ihre Arbeit ähnelt jetzt wieder dem Theater. Alles ist sehr kollaborativ.

Ja, aber der Ansatz ist eher der von einer Band. Ich lade meine Freund*innen ein, an einem Ort mit mir zusammenzuarbeiten und hoffe, dass etwas dabei herauskommt. Ich arbeite gerne mit anderen. Für «Schmerz» arbeite ich mit der Musikerin Kristín Anna Valtýsdóttir, mit der ich schon seit Jahren kollaboriere, ausserdem mit Saga Garðarsdóttir, einer Comedian und Schauspielerin. Ich bin froh, diese sonderbare Welt mit den beiden zu erkunden.

Hat diese enge kreative Verbindung auch mit der Kunstszene in Island zu tun?

Reykjavik ist klein und alle sind Amateur*innen in verschiedenen Disziplinen – das ist ein Segen und ein Fluch. Und es erleichtert die Zusammenarbeit. 

Dieser Enthusiasmus klingt sehr schön.

Ein guter Freund von mir ist Konzertpianist, aber er nimmt sich Pausen, um Musikfestivals zu kuratieren, die ziemlich abgefahren sind. Viele haben diese Art von Begeisterung in ihrer Jugend – zum Glück bleibt sie hier in Island länger in den Menschen.

Sie werden wahrscheinlich oft nach der Wiederholung in Ihrer Arbeit gefragt.

Auf Deutsch würde man sagen: selber schuld. Ich arbeite damit, also muss ich wohl wiederholt darüber sprechen.

Welchen Effekt wollen Sie denn damit erzielen?

Es geht mir um das Ritual. Das habe ich als Messdiener in der Katholischen Kirche gelernt. Dort werden jahrhundertelang die gleichen Gesten wiederholt.

In der Psychoanalyse würde man vielleicht sagen, dass die zwanghafte Wiederholung von Ritualen dazu dient, sich den Tod vom Leib zu halten. Sie hatten in Toronto kürzlich eine Ausstellung mit dem Titel «Death is Elsewhere». Gibt es etwa eine Verbindung zwischen Tod und Ritual bei Ihnen?

Daraus ergibt sich auch eine Akzeptanz des Todes. Wenn Sie etwas ständig wiederholen, dann tun Sie fast so, als wären Sie ein Gemälde oder eine Skulptur. Als Kind habe ich am liebsten einen toten König gespielt. Ich habe mich auf den Boden gelegt, mit einem Besen und einem Handtuch, und mir den Totenzug vorgestellt. Dieser Denkweise kann man sich mit Performancekunst gut nähern, indem man eine ganz simple Handlung immer wieder ausführt. Daraus ergibt sich ein mystischer Raum.

Sie meinen wie bei der Meditation? 

Ja, das hängt zusammen. Spiritualität hat interessanterweise auch mit Wiederholung zu tun. Wiederhole etwas und es wird heilig. Ich liebe die Vorstellung von Performancekunst und Spiritualität, so wie Fluxus-Stücke, die eben nicht auf die Ewigkeit von Kunst setzen. Sie haben eher etwas mit volkstümlicher Kunst zu tun, wo es eben nicht um das Archiv von Künstler*innen geht und um Museen. Eine meiner Ur-Ahninnen, Skáld Rósa, durchstreifte das Land, ging als Hebamme von Hof zu Hof. Dabei zitierte sie bei einigen Gelegenheiten ein kurzes Liebesgedicht. Und heute kennen in Island alle diese Geschichte. Das ist das coolste künstlerische Erbe, das ich mir vorstellen kann. Es gibt kein Bild von ihr, niemand weiss, wo ihr Grab ist. Nichts blieb, ausser diesem Liebesgedicht, das so kraftvoll ist.

Brauchen Sie persönlich Rituale?

Eigentlich nicht. Es gibt das wiederkehrende Ritual des Geschirrspülens. Die Menschen spülen Geschirr, um die Küche sauber zu halten. Mich hält dieses Ritual zudem bei Verstand.

Es handelt sich um gegenderte Arbeit und das ändert sich nur langsam. Vor Ihrem Kunststudium haben Sie eine Hauswirtschaftsschule besucht. Warum?

Mich faszinierte diese Schule. Sie war ein Portal in eine Pre-68er-Welt. Ich war neugierig und wollte lernen und wertschätzen, was meine Ahninnen geleistet haben.

In einem Artikel von 2016 heisst es, Ihre Karriere sei gerade am Anfang. Interessant, denn zu dem Zeitpunkt haben Sie schon ein beachtliches Oeuvre produziert. Wo stehen Sie jetzt?

Ich finde, es ist eine gute Einstellung, sich immer in der Frühphase seines Schaffens zu sehen. Seit ich mit der Kunst begonnen habe, habe ich das Gefühl, dass ich mir nächstes Jahr einen echten Job suchen muss.

Was ist denn Ihr Plan B?

Mit meinen Referenzen könnte ich als Kunstlehrer in der Grundschule arbeiten. Der Gedanke gefällt mir sehr. 

Würden Sie den Kindern Konzeptkunst erklären?

Nein. Weil ich Klischees liebe, würde ich Klischee-Kunst unterrichten.

 

«Schmerz» von Ragnar Kjartansson feiert am 20. August 2022 am Zürcher Theater Spektakel Premiere. Weitere Informationen

 

Credits

Interview: Philipp Hindahl
Foto: Rafael Pinho