Begründung der Jury

Vorbemerkung

«Wir möchten allen beteiligten Künstler*innen für ihre Grosszügigkeit danken und für ihr Engagement, das sich in einem breiten Spektrum künstlerischer Praxen und inspirierender Performances zeigte. Die Aufführungen sind ein Beweis für die Lebendigkeit der zeitgenössischen darstellenden Künste.

Als Mitglieder der Jury sind wir uns bewusst, dass unsere Kenntnisse und unser Verständnis der Kontexte, in denen viele der nominierten Künstler*innen ihre Arbeit leisten, begrenzt sind, und dass wir sie hier und jetzt erlebt haben, im besonderen Umfeld dieses internationalen Festivals in Zürich im Sommer 2022.

In der Diskussion über die nominierten Künstler*innen haben wir besonders darauf geachtet, welche Auswirkungen die Preise auf den künstlerischen Weg und auch auf die künstlerische Landschaft im breiteren Sinne haben könnten. Wir haben die gegenwärtige Dringlichkeit der jeweiligen künstlerischen Arbeit, die Einzigartigkeit der künstlerischen Sprachen und Ansätze sowie das Potenzial hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen berücksichtigt.

Mit unserer Auswahl möchten wir künstlerisches Schaffen hervorheben, welches das Zeitgenössische auf eigene Art und Weise zeigt und durch die performative Zusammenführung verschiedener Medien (wie Bewegung, Poesie, Musik und bildende Kunst) ganz spezifische künstlerische Angebote und Publikumserfahrungen ermöglicht.»

ZKB FÖRDERPREIS 2022: «The Love Behind My Eyes» von Ali Chahrour

«Mit ‹The Love Behind My Eyes› öffnet Ali Chahrour einen sehr intimen Raum, eine Welt der Emotionen, in der Liebe und Kummer konkurrieren, Trauer und Zärtlichkeit ineinandergreifen. Es ist eine poetische Reise und eine zutiefst politische Performance zugleich, die auf einer alten Legende, einer Liebesgeschichte basiert. Ob Legende oder Realität (das spielt keine Rolle): Wir werden Zeug*innen davon, wie die Vergangenheit in das heutige Dasein wirkt. Bewegung, Partitur und Körpersprache reflektieren verschiedene Zeitlichkeiten und weben eine performative Erfahrung, die sich ebenso dringend wie ewig anfühlt. Alles geschieht in diesem Moment, genau jetzt. Alles ist bereits geschehen. Beides trifft in dieser Arbeit zu, die einem nichtlinearen Zeitkonzept folgt.

Die sorgfältige und virtuose Komposition von Raum, Licht und Musik unterstreicht die radikale Sanftheit der Gesten, die für dieses Stück choreografiert wurden. Mit atemberaubender Langsamkeit und Präzision zeigt es zwei Körper voller Sinnlichkeit und Liebe, die von fortwährender Unterdrückungen und einer grossen Traurigkeit überwältigt werden.

Die Sängerin – eine Mutter, eine Trauernde – erscheint auf der Bühne als Figur zwischen zwei Welten, die einen Raum der Akzeptanz für die innige Umarmung der Liebenden schafft, während sie sich zwischen den Darstellern und dem Publikum bewegt und als Zeugin agiert, die von uns mehr als nur Voyeurismus verlangt.

Dieses Stück von Ali und den anderen Mitwirkenden wurde in Beirut während der Covid-Pandemie und anderer schwerer Krisen entwickelt. Vor diesem Hintergrund fordert es Raum für Intimität, persönliche Geschichten und verkörpertes Wissen ein und thematisiert zugleich auf ein grösseres Spektrum kollektiver sozialer Probleme.»

ZKB ANERKENNUNGSPREIS 2022: «No soy unicornio» von Martha Luisa Hernández Cadenas

«Von dem Moment an, als Martha die Bühne betrat, fesselte sie uns mit ihrer starken Präsenz und ihrem einzigartigen Sinn für Humor. Die Dramaturgie ihres Stücks ist simpel und zugleich von bestechender Klarheit. Ihr Performance-Stück ‹No soy unicornio› ist reich an Poesie und konkreten Bildern aus dem soziokulturellen Kontext Havannas. Im Mittelpunkt steht die Figur des Einhorns, ein fabelhaftes Wesen ausserhalb der Norm, mit Hilfe dessen das Publikum eingeladen ist, sich eine alternative Realität vorzustellen. Während die Performerin nach und nach eine Auswahl an Objekten von sowohl persönlicher als auch kollektiver Signifikanz auspackt und mit ihnen interagiert, gelingt es ihr auf brillante Weise, Vorstellungen von Sexualität, Gender und Identität zu hinterfragen. Die Grosszügigkeit, Nachdenklichkeit und Fluidität ihrer Performance sowie die Freiheit, mit der sie Bedeutungen und Medien zusammenfügt und auseinandernimmt, spiegeln ein vielschichtiges Thema wider, während die Figur des Einhorns und seine Symbolik stets im Fluss bleiben und sich verändern. Das künstlerische Team fand eine wunderbar spielerische Lösung für die Live-Übersetzung der Spoken-Word-Improvisation, die auch erkennen lässt, dass die Künstlerin bereit ist, ihre transdisziplinäre Arbeit selbstbewusst in verschiedenen internationalen Kontexten zu präsentieren. 

In Martha haben wir eine sehr talentierte Autorin, Theatermacherin und Performerin erkannt und wir sind gespannt, wie ihre künstlerische Reise weitergeht…»