Das westliche Archiv ist erschöpft

Für eine Ökologie des Wissens

Der senegalesische Ökonom und Autor Felwine Sarr hat letztes Jahr in der Vortragsreihe «Talking on Water» über die potenzielle Vorreiterrolle Afrikas für neue global-gesellschaftliche Denkweisen gesprochen. Mittlerweile ist sein Erfolgsbuch «Afrotopia» auch auf Deutsch erschienen. Im Winter wurde ausserdem der «Rapport sur la restitution» veröffentlicht, den er zusammen mit der Kunsthistorikerin Benedicte Savoy verfasst hat. Diese Analyse des Umgangs mit afrikanischer Raubkunst in französischen Museen ist das zentrale Dokument in der aktuellen europäischen Restitutionsdebatte. In seinem Vortrag forderte Sarr nicht weniger als einen wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel. Für das Theater Spektakel hat er einige seiner Gedanken zusammengefasst.

Von Felwine Sarr

In «Afrotopia» geht es mir um das Überdenken der Kategorien, über die der afrikanische Kontinent gegenwärtig meist dargestellt wird, und um die Zielsetzungen, die den afrikanischen Gesellschaften seit ihrer Unabhängigkeit in den frühen Sechzigerjahren gegeben wurden. Mein Hauptgedanke ist dabei, dass die Zukunft stets offen und nicht konfiguriert ist. Die Afrikanerinnen und Afrikaner müssen eigene Metaphern für die von ihnen gewünschte Zukunft finden.

2100 wird es mehr als vier Milliarden Afrikanerinnen und Afrikaner geben. Das sind 40 Prozent der Weltbevölkerung (die meisten jungen Menschen werden in Afrika leben). In Afrika befinden sich ein Drittel aller natürlichen Ressourcen sowie 60 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen.

Einer meiner Vorschläge (den ich mit Achille Mbembe teile) ist, dass der afrikanische Kontinent ein Labor für eine neue Welt sein könnte; indem aus den Misserfolgen des industriellen Abenteuers der letzten Jahrhunderte gelernt wird, indem das Gleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie neu überdacht wird; indem die politische Organisation von Gesellschaften neu erfunden und Demokratie vertieft wird durch die Schaffung neuer Lebensformen im Gemeinwesen ebenso wie durch die Erweiterung des Verständnisses von Gemeinwesen. Welche Art von Zivilisation werden die afrikanischen Länder etablieren?

Angesichts der Notwendigkeit, neue soziale und politische Lebensformen zu entwickeln, ist die Wissensproduktion ein zentrales Thema. Wissensproduktion unterstützt und vervielfältigt eine politische, wirtschaftliche und historische soziale Ordnung. Erkenntnistheoretische Fragen nach der Art von Wissen, nach seiner Produktion und nach seinen Zwecken sind fundamental für das Ringen um politische, kulturelle und wirtschaftliche Emanzipation.

In der jüngeren Geschichte des afrikanischen Kontinentes hat das ethnologische Wissen, das europäische Länder über afrikanische Gesellschaften konstruiert haben, eine entscheidende Rolle bei der kolonialen Herrschaft gespielt. Wissen ermöglicht die Kontrolle (oder Regulierung) des Weltverständnisses und stützt damit Macht und Kolonialität.

Erkenntnistheoretische Verlagerung

Die erkenntnistheoretische Verlagerung, die ich fordere, ist, dass die verschiedenartigen menschlichen Denkweisen überdacht werden, angefangen bei der prinzipiellen Gleichwertigkeit der verschiedenen Gedanken- und Wissensschulen und dem Anerkennen ihrer Unvergleichbarkeit. Das erlaubt uns, verschiedene Wissensformen, Archive und Bibliotheken des Denkbaren als einzigartige Denkweisen zu begreifen, die sich parallel zu der jeweiligen Kultur entwickelt haben, der sie entstammen. Um dies zu erreichen, ist es nötig, neben dem derzeitigen wissenschaftlichen Verständnis auch andere Arten des Verstehens von Realität anzuerkennen. Die Erforschung der relativ unbekannten afrikanischen Erkenntnistheorien erlaubt einen aufgeschlosseneren Zugang zu verschiedenen Wissensformen, welche den afrikanischen Gesellschaften in ihrer langen Geschichte dienlich waren: therapeutisches und umweltliches Wissen, fachliches Know-how, soziales, geschichtliches, psychologisches, ökonomisches und landwirtschaftliches Wissen. Diese verschiedenen Wissensbereiche haben das Überleben, das Wachstum und die Zukunftsfähigkeit der afrikanischen Gesellschaften gesichert. Um sie zu mobilisieren, ist es notwendig, die zahlreichen afrikanischen kulturellen Ausdrucksweisen und linguistischen Ressourcen zu erforschen. 

Ökologie des Wissens

Die letzten Jahrzehnte sind geprägt von stärker werdenden Forderungen nach Umweltschutz, nach gerechter Ressourcenverteilung und nach grösserer moralischer Verantwortung der Wissenschaft, der Industrie und der Politik beim Angehen dieser Probleme. Für die Wissenschaft impliziert dies die grundlegende Veränderung von Vorstellungen und Vorgehensweisen, die über Jahrhunderte hinweg akzeptiert waren. Ganzheitliche Konzepte für Ökosysteme und die neue Relativität ersetzen den mechanischen Materialismus von Descartes und Newton und stellen Dualismen wie die strikte Trennung von Geist und Materie oder von Mensch und Natur infrage.

Auf der Suche nach einer alternativen Methodologie hat Margarita Bowen 1981 den Begriff Ökologie des Wissens vorgeschlagen. Dieser unterstreicht die Ansicht, dass wissenschaftliche Fragestellungen  im  dynamischen  Raum-Zeit-Kontext   des globalen Ökosystems stattfinden. Das bedeutet, dass die Beobachterin oder der Beobachter − somit auch die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler − als Teil des Systems, das sie beobachten, betrachtet werden muss.

Aus Sichtweise der Ökologie des Wissens ist eine Trennung des Beobachtenden von einer «äusseren Welt» nicht relevant. Dieser Ansatz war nützlich für die Entwicklung von Physik und Naturwissenschaften. Er erweist sich jedoch als weitaus weniger fruchtbar für die Auseinandersetzung mit Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, weil ihre Studienobjekte vielschichtig sind und das Subjekt nicht vom Objekt getrennt werden kann. Alle Ideen oder Aktionen, die aus der Beobachtung hervorgehen, sind selbst wiederum Teil des ganzen (globalen) Ökosystems.

 Dieses dynamischere Modell enthält eine historische Dimension, indem es anerkennt, dass ein Akt der Wahrnehmung, sogar in einer wissenschaftlichen Beobachtung, nicht vom Erfahrungskontinuum eines Menschen getrennt werden kann. Jede Beobachtung beinhaltet eine Interaktion mit der Umgebung. In der Akzeptanz, dass Wissen aus Erfahrung abgeleitet wird, baut die Ökologie des Wissens auf einem Empirismus auf, der auf einem breiten Erfahrungsbegriff beruht, welcher im Einklang mit dem Konzept eines dynamischen Welt-Ökosystems steht.

Das Konzept des Verstandes muss überdacht werden. Die Vorstellung eines einzelnen individuellen Verstandes − die gut in die mechanisch-materialistische Theorie von diskreten Entitäten und die westliche Ethik von Privatunternehmen und Individualismus passte − passt nicht in das Paradigma eines Ökosystems von Kontinuität und Wechselwirkung und gemeinschaftlichen Verflechtungsprozessen.

Öffnung des Wissens

Es geht mir um die Idee, einen erkenntnistheoretischen Pluralismus zu erkennen, der die Besonderheit der Wissenschaft in einigen Bereichen anerkennt, jedoch ihren Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol anfechtet. Was lehren uns die nicht-diskursiven Denkweisen über die Realität? Können wir uns eine Erkenntnistheorie der Sinne vorstellen? Können wir unser Wahrnehmungsvermögen erweitern?

Es geht auch darum, sowohl den wissenschaftlichen Anspruch über das einzige berechtigte und wahre Wissen anzufechten wie auch den postmodernen Relativismus, gemäss dem alles Wissen gleichwertig ist. Es geht nicht darum, allem Wissen den gleichen Wert beizumessen, sondern eine pragmatische Diskussion über alternative Kriterien der Gültigkeit zu ermöglichen. Eine Diskussion, die nicht sofort Wissen disqualifiziert, das sich ausserhalb des wissenschaftlichen Kanons befindet.

Das bedeutet, die Monokultur des Wissens zu beenden und eine Konstellation zu ermöglichen, in der sich verschiedene Wissensbereiche gegenseitig beeinflussen, miteinander kommunizieren und ergänzen können. Es bedeutet aber auch, die Vorstellung aufzugeben, dass Wissen fest verortet und ausschliesslich vom Kontext seines Entstehens abhängig ist. Alles Wissen ist zugleich verortet und dazwischen, eingebettet und auch Teil des Ganzen. Es geht um die Idee, die Bedeutung von Wissenschaft wieder für die Suche nach Wissen zu öffnen. Dies kann mit einer Art neuer Bibliothek erreicht werden, einer postkolonialen Bibliothek, die allen Bibliotheken Ausdruck verleiht: vorkolonialen, kolonialen und vielfältigen in afrikanischen Gesellschaften verbreiteten Archiven, Gedanken und Kenntnissen. Es kann ebenso erreicht werden, durch das Schaffen von neuem Wissen und Wissensformen. Unwissen könnte der wichtigste Bereich für eine erkenntnistheoretische Verlagerung sein, denn Unwissen beinhaltet das, was ignoriert (nicht als Wissen betrachtet) wird, aber auch das, was wir noch nicht wissen. Deshalb bildet Nichtwissen einen Raum der Kreativität und Innovation.

POSTKOLONIALE PERSPEKTIVEN IM PROGRAMM

Auch dieses Jahr erzählen viele Produktionen im Programm von den Folgen kolonialer Politik. Migration und Flucht sind bestimmende Themen unserer Zeit. In einigen Arbeiten wird das relativ explizit thematisiert. Am Eröffnungswochenende zum Beispiel  beschäftigt sich die libanesische Schauspielerin Chrystèle Khodr in  «Titre  provisoire» mit der Migration ihrer Familie im Nahen Osten, Lia Rodrigues zeigt in «Fúria» Bilder aus einem Brasilien zwischen der Unterdrückung zur Zeit der europäischen Eroberung und heutiger neokolonialer Diskriminierung von Indigenen.

Auch verschiedene Short Pieces handeln vom Krieg (Hiba Alansari) oder stellen Fragen nach kultureller Identität als Folge von Migration (Eunkyung Jeong). Samara Hersch & Lara Thoms erzählen mit australischen Kindern die absurde Geschichte der Insel Nauru: koloniale und kapitalistische Ausbeutung inklusive Ausgrenzung quasi «in a nutshell».

Aber nicht nur der Wechsel der Perspektive von jener des globalen Nordens zu jener des Südens prägt das Programm, sondern auch der von einer männlich regierten zu einer weniger patriarchischen Welt: Die französische Künstlerin Phia Ménard bringt in «Saison Sèche» das Patriarchat ganz bildlich zum Einstürzen, und die jungen Darstellerinnen von La Re-Sentida berichten von den Diskriminierungen, mit denen sie als Mädchen konfrontiert sind. Eine ganze Reihe weiterer Arbeiten im diesjährigen Programm erzählt von Zuschreibungen und Stereotypen und den Versuchen, sich davon zu befreien. (mvh)