Diese Stimme lässt sich nicht zum Schweigen bringen

Mit ihren kraftvollen Chorstücken gibt die international renommierte polnische Theaterregisseurin Marta Górnicka denjenigen eine Bühne, die im politischen Diskurs oft übersehen werden. Górnicka, Absolventin der Theaterakademie und der Musikhochschule in Warschau, gründete 2010 den «Chór kobiet» (Chor der Frauen) mit 25 Frauen unterschiedlichen Alters und Berufs. Der Erfolg stellte sich schnell ein: Noch im selben Jahr debütierte sie mit «Hier spricht der Chor», in dem sie die Frustration über klischeehafte Frauenbilder in der westlichen Konsumgesellschaft und das christlich-religiöse Weiblichkeitsideal thematisierte. Ein Jahr später folgte «MAGNIFICAT», das die Stellung der Frau in der streng katholischen polnischen Gesellschaft kritisierte. 2014 brachte Górnicka in «Mother Courage Won‘t Remain Silent» 60 jüdische und arabische Mütter, israelische Soldat*innen, Kinder und Tänzer*innen zusammen. Im Jahr 2017 setzte sie sich in «Hymn to Love» mit dem aufkommenden Nationalismus in Europa auseinander. In ihrem neuesten Werk «Mothers. A Song for Wartime» stehen die Stimmen von Frauen und Kindern aus der Ukraine und Belarus im Mittelpunkt. Marta Górnicka sprach mit der Kuratorin Maria Rößler über das Stück, das im August am Zürcher Theater Spektakel aufgeführt wird.

 

Regisseurin Marta Górnicka | Foto: Esra Rotthoff

Das Zürcher Theater Spektakel 2024 wird mit «Mothers. A Song for Wartime» eröffnet, deiner neuesten Theaterproduktion, die du mit einem Chor von 21 Frauen aus Belarus, Polen und der Ukraine erarbeitet hast. Viele dieser Frauen mussten aus politischen Gründen, insbesondere wegen des Krieges Russlands gegen die Ukraine, aus ihrer Heimat fliehen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Zunächst möchte ich mich für diese Einladung und die grosse Ehre, dieses Festival zu eröffnen, bedanken.

Alles begann, als ich mir eine Auszeit von der Arbeit nahm und nach Polen fuhr. Das war kurz nach Russlands brutalem Einmarsch in die Ukraine. Als ich in Warschau ankam, verspürte ich den starken Wunsch, einen Beitrag zu leisten und irgendwie zu helfen, obwohl ich nicht wusste, wie. Ich wandte mich an die Freedom Foundation und bot an, für sie zu arbeiten. Sie stellten mich einer Gruppe von Frauen im Alter von 8 bis 71 Jahren vor. Viele von ihnen waren Belarusinnen, die viel Leid ertragen mussten, auch politische Verfolgung. Und es gab ukrainische Frauen, die unter Bombenangriffen und Krieg gelitten hatten. Bald wurde klar, dass wir gemeinsam am meisten bewirken konnten, wenn wir mit den Mitteln des Chors arbeiteten, um die verschiedenen Geschichten zu erzählen. In diesem Moment fühlte ich mich nicht wie eine Theaterregisseurin, sondern eher wie eine Sozialarbeiterin. Wir initiierten einen Chor, um über Körper und Stimme ein Gefühl der Verbundenheit und Einheit zu schaffen und zu fördern.

Für die Partitur des Stücks hast du eine Mischung aus traditionellen Liedern, ukrainischen Kinderreimen und Beschwörungsformeln verwendet. Welche Bedeutung haben diese alten Lieder heute – in deinem Stück und im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen in der Ukraine?

Als ich in Warschau war, arbeitete ich mit ukrainischen Musikethnologen auf der Suche nach dem, was der Krieg nicht antasten kann – die Tradition der lebendigen Stimme und des ukrainischen Gesangs. Ich entwickelte eine tiefe Faszination für die ukrainische Musikkultur. Also habe ich mich in alte Lieder, Kinderspiele und Gedichte vertieft. Das war wirklich erstaunlich, und ich brachte all dieses Material in unsere Workshops mit der Gruppe ein. Im Austausch zwischen Ukrainerinnen und Belarusinnen stellten wir schnell fest, dass sich das musikalische Material der beiden Kulturen bemerkenswert ähnelt. Es ist Musik, die sie von ihren Grossmüttern und von ihren Müttern gelernt haben – Musik, die viel älter und grösser ist als sie selbst. Von Anfang an suchte nach etwas zutiefst stärkendem in den ukrainischen Liedern. Es war für mich sehr wichtig, von etwas auszugehen, das sich gegen Krieg und Vernichtung wendet. Eine Quelle der Kraft, die gegen den Krieg wirkt. Das Material hat paradoxerweise überhaupt nichts mit Krieg zu tun, sondern geht eher auf eine Praxis der Liebe und auf Traditionen zurück, die sich der Heilung und Wiederbelebung widmen. Das Liedmaterial wirkt wie ein Ritual und eine Feier des Lebens.

Foto: Bartek Warzecha

Wie immer in deinen Arbeiten singt der Chor nicht nur, sondern rezitiert auch Textpassagen.

Ja, ich arbeite immer mit einer Mischung aus Texten aus verschiedenen Quellen, ohne zwischen hoher und niedriger Literatur zu unterscheiden. Ich mische alles zusammen. Wir bearbeiten rhetorische Klischees oder verschiedene Textgattungen, um eine Synthese herzustellen. Der Grund dafür ist, dass ich, obwohl meine Arbeit stark auf Sprache beruht, ihr immer mit Skepsis begegne. Ich glaube nicht an die Sprache als etwas Absolutes. Bei meinen Aufführungen kommt es auf die Art und Weise an, wie der Text gesprochen, gesungen oder in den Gesamtkontext gestellt wird.

Du giltst als Wiederentdeckerin und Neubegründerin des Chortheaters in Europa. Du arbeitest seit über einem Jahrzehnt mit dieser kraftvollen Theaterform. Der Chor – bei dir ist es oft ein Frauenchor – ist der einzige kollektive Protagonist deiner Produktionen. Wie hat das alles angefangen? Woher kommt dein Interesse an der chorischen Form?

Diese Reise begann vor etwa 15 Jahren am Theaterinstitut in Warschau – einer Einrichtung, die sich nicht nur auf das Theater selbst, sondern auf die Schnittstelle zwischen Theater und Forschung konzentriert. Dieser experimentelle Ausgangspunkt legte den Grundstein für meine Vision, Chöre und Frauenstimmen wieder auf die Bühne zu bringen, insbesondere in Polen, wo Frauen immer noch für ihre vollen Rechte kämpfen. Die Erforschung des Chors und der Frauenstimmen ergab sich aus dem historischen Kontext des Theaters, welches überwiegend von Männern geprägt war. In der antiken Geschichte des Theaters wurden Frauen und Sklaven marginalisiert oder ausgeschlossen. Von Anfang an war mir klar, dass ich den Frauen den Vorrang geben wollte und eine neue Form des Chortheaters anstrebte.

Und wie hast du diese Idee umgesetzt?

Es war eine gemeinsame Reise, bei der es darum ging, die Grundlagen neu zu entdecken – Texte, Sprache, Räume, Stimmen. Wir mussten eine Sprache finden, die roh und rein ist, eine Sprache, die tief mit unseren kollektiven Erfahrungen in Resonanz steht und es uns ermöglicht, eine eingehende Verbindung zu unserem Publikum herzustellen. Dieser Prozess beinhaltete auch die Schaffung neuer Räume, Librettos und Trainingsmethoden, die es den Performer*innen ermöglichten, die komplexen Gegebenheiten der Realität zu verarbeiten. Ich musste neue Formen des Körper- und Stimmtrainings entwickeln, die den Frauen helfen, ihre eigene Kraft zu entdecken und auf der Bühne Präsenz zu zeigen. In unserer Art von Theater sind Form und Inhalt immer miteinander verbunden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die kollektive Kraft des Chortheaters sich mit den harten Realitäten unserer Welt auseinandersetzen muss. Wenn wir uns monströsen Realitäten stellen wollen, brauchen wir einen starken Chor, der aus individuellen Stimmen besteht, die als Partner*innen und Protagonist*innen auftreten. Der Chor dient als Begegnungsort, aber auch als Plattform für den generationen- und disziplinenübergreifenden Dialog.

«Mothers. A Song for Wartime» steht in einer Reihe mit anderen Theaterarbeiten von dir, die von Themen wie «Mütter» und «Mutterschaft» inspiriert sind. In deinem Stück begegnen wir Frauen verschiedener Generationen und Hintergründe, die ihre Stimme erheben. In welchem Verhältnis steht dieser kollektive Körper zu neokonservativen, patriarchalischen politischen Bewegungen?

In der Tradition des antiken Dramas und des Chors reagierten Mütterchöre auf zwei Arten auf Krieg und Tod: Entweder wurden sie zu Rächerinnen und töteten ihre Feinde, oder sie wurden zu Klagefrauen, die die Opfer beweinen. Es gibt diese sehr alte Tradition des Lamentierens im Theater. Im Stück «Mothers» suchen wir nach einem neuen Weg. Einen dritten Weg. Der Krieg in der Ukraine offenbart uns ein neues Paradigma der Frauen im Krieg. Frauen sind Protagonistinnen in diesem Krieg. Sie bringen ihre eigenen Geschichten und ihre eigenen Kriegserfahrungen auf die Bühne. Sie sind Überlebende des Krieges. Es ist mir sehr wichtig, das Wort «Überlebende» zu verwenden – nicht «Opfer», welches in der öffentlichen Darstellung leider immer noch dominiert.

«Mothers» ist ein Körper, der patriarchalische Politik ablehnt und sich ihr widersetzt. Wie es in dem Stück heisst: «Wir haben es satt, dass unser Körper als Maschine benutzt wird, um mehr Soldaten für den Krieg zu produzieren. Die Rolle der Mütter, die mit ihrem Körper dem Krieg dienen, ist uns nicht genug. / Die Rolle derer, die die Toten beweinen, passt uns nicht mehr.»

Eine der wichtigsten Funktionen des Chors besteht für mich darin, das Verborgene, das Ungeheuerliche aufzudecken und die sozialen und unbewussten Mechanismen zu enthüllen, die die Gesellschaften steuern. Einer dieser Mechanismen ist die nicht enden wollende und unveränderte Gewalt gegen Frauen und Zivilist*innen. Vielleicht können wir etwas dagegen unternehmen, wenn wir uns dieser Muster bewusst werden, Kriegsklischées in Frage stellen und uns bemühen, das Bild der Mutterschaft zurückzuerobern, indem wir uns auf das neue Paradigma der Frau beziehen, das uns der Krieg in der Ukraine aufgezeigt hat.

Ich möchte die Tatsache würdigen, dass ich meine Arbeit stets mit der Unterstützung von Freund*innen und Partner*innen realisiert habe. Ohne sie wäre ich nicht in der Lage gewesen, meine Produktionen aufrechtzuerhalten. Mein Chortheater war immer eine direkte Reaktion auf die Brutalität der gesellschaftspolitischen Realität. Als eine rechtsradikale Partei in Polen an die Macht kam, inszenierte ich zum Beispiel die Performance «Constitution for the Chorus of Poles» mit 50 Personen unterschiedlicher Berufe, Altersgruppen und politischer Einstellung. Dieses Projekt sowie meine Theaterproduktion «Hymn to Love», die 2018 am Zürcher Theater Spektakel aufgeführt wurde, ernteten Widerstand und landeten in Polen auf einer schwarzen Liste. Bald stand auch meine gesamte Arbeit mit dem Frauenchor auf der schwarzen Liste und ich konnte in Polen nicht mehr produzieren. Daher zog ich nach Berlin und gründete das Political Voice Institute, ein soziales Labor, das mit verschiedenen chorischen Formen experimentiert. Um meine Arbeit fortzusetzen, war ich auf die Unterstützung von Produktionsstätten ausserhalb Polens angewiesen – wie das Maxim Gorki Theater in Berlin.

Die Situation änderte sich nach den nationalen Wahlen im Jahr 2023, die das Ende der rechtsextremen Regierungspolitik markierten und auch dem kulturellen Ausdruck in Polen wieder mehr Freiheit einräumten. Ich glaube, dass dies eine neue Ära der Freiheit und der Möglichkeiten für freie Theaterarbeit und experimentelle Kunst einläutet. Vor den Wahlen war es mir kaum möglich, in Warschau zu proben. Dank der Unterstützung durch das polnische Kulturministerium können wir jetzt mit unseren Produktionen freier touren. Das war eine grosse Erleichterung für uns.

Während du mit «Mothers. A Song for Wartime» durch verschiedene europäische Länder tourst, triffst du Publikum an verschiedenen Orten. Welche Reaktionen habt ihr bisher erhalten? Und was erhoffst du dir von der Begegnung des Frauenchors mit dem Zürcher Publikum im August?

Die Resonanz war unglaublich und emotional, oft zu Tränen rührend... Die Uraufführungen im Powszechny Theater in Warschau, im Le Maillon in Strassburg und im Maxim Gorki Theater in Berlin waren für uns zutiefst bewegende Erlebnisse. Nach jeder Aufführung erhielten wir stehenden Beifall und viele herzliche Rückmeldungen aus dem Publikums. Ähnliche Erfahrungen haben wir kürzlich im Theater Lliure in Barcelona und im Düsseldorfer Schauspielhaus gemacht.

Der Krieg in der Ukraine mag nicht mehr die Schlagzeilen beherrschen, und die Menschen sind der Nachrichten über Gewalt und Brutalität müde. Wir wollen die Stimme dieses Krieges sein. Wenn die Bilder des Krieges verblassen, wollen wir die Stimme sein, die diese Bilder lebendig hält. «Mothers» ist eine Hommage an die Tradition des ukrainischen Gesangs, eine lebendige Stimme, die durchdringt und bewegt. Dieser Gesang schafft einen Raum, der nicht vereinnahmt werden kann, und diese Stimme lässt sich, trotz allem, nicht zum Schweigen bringen. Derzeit befinden wir uns mitten in einer Europatournee. Im August werden wir in Zürich sein. Wir laden euch ein, «Mothers» mit uns zu erleben!

 

Credits
Interview: Maria Rößler
Fotos: Bartek Warzecha
übersetzt aus dem Englischen von Franziska Henner